Kulturleistung - Texter Sautter
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Kulturleistung

Etappe 6, Tourette de France, Lamoura – Seyssel, 98 km, 1.100 Höhenmeter

Jan Ullrich hatte ich schon erwähnt, neulich. Erster deutscher Sieger der Tour. Muss ich nicht weiter vertiefen. Aber wer kennt Kurt Stölpel? Als Ullrich ein Jahr vor seinen Tour-Sieg Tour-Zweiter wurde, hat er noch einen Gratulationsanruf von Stölpel bekommen. Wenig später starb der großartige Tour-Zweite von 1932. Am Col de la Faucille denke ich beim Passhöhen-Expresso an Stölpel. Hier hatte er auf der Tour 1932 seine schwerste Stunde. Vorher muss betont werden, dass Stölpel 1932 klar der beste Fahrer war. Stölpel hätte die Tour mit 20 Minuten Abstand gewonnen, wenn nicht ausgerechnet in diesem Jahr eine Regel ausprobiert worden wäre, die einen Etappensieger vier Minuten Bonifikation geschenkt hätte. Jetzt darfst du dreimal raten, wer in diesem Jahr der beste Sprinter war: ein Franzose. Klar. Namens Leduc. Der hat die Tour schließlich gewonnen. Die Regel mit den großzügigen Bonifikationen wurde bei der nächsten Austragung gleich wieder abgeschafft.

Stölpel lag schon vor der Faucille-Etappe auf Rang zwei. Aber seine Nacht war gruselig. Wenn man von Nacht sprechen kann, wenn der Start schon um 5 Uhr morgens erfolgt. Der große Deutsche hatte sich vermutlich eine Fischvergiftung eingefangen. Den ganzen Morgen reichen ihm seine deutschen Sportskameraden Haferschleim. Aber das Zeugs landet immer im Straßengraben. Stölpel behält nichts bei sich und strampelt trotzdem weiter. Wie man derart schwach den Col de la Faucille hochkommt, von der harten, der Genfer Seite, bleibt mir ein Rätsel. Aber schließlich beißt sich Stölpel durch und kommt mit dem Feld in Belfort an. Nach schlappen 291 Kilometern. Bravo Kurt Stölpel. Leider kennen ihn die wenigsten. Ist halt schon lange her, 1932. Aber falls jemand mal ein Idol im Radsport brauchen sollte: Lest sein Tagebuch von damals. Als Buch erschienen. Ein großartiger Erzähler überdies – und ein Sportsmann im eigentlichen Sinne.

Den Faucille erledigten wir heute von der anderen, der leichteren Seite. Viele Reisende schwärmen über die Aussicht zum Montblanc. Nun ja. Wir sind zufrieden, wenn’s nicht regnet. Aber unten im wunderhübschen Genfer Hinterland: plötzlich andere Klimazone. Unverhofft schüren wir durch sonnendurchflutete Weinberge und können unser Glück kaum fassen. Vor lauter Seligkeit fahr ich so lange in meinen drei Schichten, die mir längst angewachsen sind, bis die Hitzewolken unten zu den Socken rausdampfen. So muss sich eine Eidechse bei der Häutung vorkommen. Die weiß gar nicht, was passiert, ob das jetzt wirklich gut ist, und macht‘s trotzdem. Und gleich danach werden wir rechter Hand in einem Weindorf von einem urigen Hinterhof-Lokal begrüßt. Viel besser wird‘s nicht mehr.

Und damit zum eigentlichen Skandal dieser Tage: Die Franzosen tunken tatsächlich. Die Französinnen auch. Schon vor ein paar Tagen gesehen, heute wieder. Auf Hochdeutsch heißt das vermutlich „Stippen“. Aber in Frankreich verspeist man auch Stopfleber, Schnecken und Froschschenkel. Und hier sagen sie „Expresso“, ja wirklich mit x, wenn sie nach der Mahlzeit einen gepflegten Kaffee bestellen. Mit x! Danach serviert die freundliche Bedienung das Heißgetränk mit den Worten: „Voilà, un Expresso pour Monsieur“. Wieder x. Ich hab‘s deutlich gehört. Fehlt ja nur noch, dass sie ein frisches Croissant eindrehen, zusammenquetschen, damit sie es auch in ihre kleine Expressotasse gestippt bekommen. Frankreich schenkte der Welt Air, Asterix und Bic Kugelschreiber, lauter fantastische Kulturleistungen. Und in irgendeiner Schmuddelecke sitzt Gérard Depardieu und stippt genüsslich ein Croissant. Abgründe. Andererseits muss lobend zum Thema Föhn erwähnt werden: Auch diese nützliche Wunderwerk wurde in Frankreich erfunden. Der Friseur Godefroy war‘s. Guter Friseur.

Erkenntnis des Tages: Die komischen Bendel, die Boulespieler ums Handgelenk haben, sind zum Aufheben der Kugel. Da sind starke Magneten unten dran. Die Bendel sind dazu da, damit sich der austrainierte Bouleur sich nicht bücken muss. Wir durften heute einige Profis beim großen Turnier beobachten. Faszinierend. Irgendwie Darts auf französisch. Und die schrulligen Alten in ihren Vereinsdressen: eine Augenweide. Bei einigen Routiniers bestand die größte sportliche Leistung zweifellos darin, den Dress überhaupt anzuziehen.