25 Sep Graue Maus
Graue Maus
Dienstreise, Etappe 2, Wissembourg – Saarbrücken, 100 km, ca. 1200 Höhenmeter
Hinter dem großen Wald liegt eine Gegend, von der ich bisher nicht wusste, dass es sie überhaupt gibt. Aber erstmal Wald. Viel Wald. Wenn du durchfährst der Länge nach: Praktisch Waldbaden auf dem Rad. Der Wald in den Nordvogesen hört nicht auf. Kaum ne Lichtung. Nur in den sanften Tälern moorige Wiesen. Außerdem noch Wald. Kaum jemand zu sehen. Wenn von links jemand aus der Einfahrt preschen würde und mir die Vorfahrt nehmen würde, würd ich ihn umarmen. Prescht aber niemand. Niemand da. Auch kaum Einfahrten. Nur Rinder gucken mich an. Mit langen Hörner. Ich guck zurück. Ich als Radler denke: Ochse, du siehst so aus, als ob du nicht hierher gehörst. Der Ochse denkt: Radler, du siehst so aus, als ob du nicht hierher gehörst. Klassisches Patt. Bei der Recherche stellt sich raus, dass man in der Gegend an vielen Stellen schottische Hochlandrinder zur Landschaftspflege einsetzt. Pflegeleicht wären sie. Brauchen nicht viel und halten die wenigen Lichtungen frei, weil sie nix verschonen. Wenn mich nicht viel täuscht, gibts in den Nordvogesen mehr Schotten als Touristen. Tolle Gegend. Hat kein Influencer je gesehen, das hier.
Gegen Ende wird der Wald etwas bedrohlicher: Truppenübungsplatz. Wurde von den Deutschen angelegt, gegen 1900. Dann war er französisch, dann wieder deutsch und endlich französisch. Ein paar Dörfer wurden umgesiedelt. So macht man das halt. Das Gelände gehört zum Bitscher Land. Dachte ja ursprünglich ich fahr durch Lothringen. Gibt’s aber kaum mehr. Das große Gebiet nennt sich seit kurzem „Grand Est“. Sonst steht da nur „Pays de Bitche“ auf den Werbe- und Selbstvergewisserungsschildern an der Straße. Lothringen wurde fast abgeschafft. Bitscher Land also. Da bitscht mir gleich der Regen ins Gesicht. Bitsch, patsch. Bitsch als Stadt entpuppt sich als Geheimtipp für abseitiges Reisen. Grau mit Festung obendrauf. Expresso nur beim Döner. Ich komm gerade rechtzeitig, um festlich geschmückten Soldaten eine Gedenkzeremonie abzunehmen. Man würdigt die Opfer des Algerienkriegs. Das ist alles fein angelegt, auch einen Park des Friedens gibt’s. Aber nirgends steht „Plat du jour“. Damit ich nicht auf die Idee komme, für Bitch zu influencen, bleibt das Wetter grau. Und genau da, wollt ich schon immer hin: ins Abseits. Dorthin, wo noch nicht mal ne Krimiserie gedreht wurde. Im allwissenden Netz finde ich ein Zitat, das von Moltke zugeschrieben wird, der im Deutsch-französischen Krieg was zu sagen hatte: „Bitsch, welches ernstlich anzugreifen nicht der Mühe werth gewesen war…“
Schön war‘s gewesen, sagen die Bitscher. Die Stadt wechselte ingesamt sechsmal die Staatszugehörigkeit. Lustig ist das nicht: Jedesmal Plünderung, Armut und Vertreibung. Und wenn ich heute durchradle, und mich wundere, dass das Bitcherland überhaupt existiert, machen die Leute high five, weil das Beste, was ihnen passieren kann, ist, dass sie keiner kennt. Dass sie bitte fortan von der Geschichte übersehen werden. Als Graue Maus unter den Städten und Region lässt sich’s eigentlich gut leben. Also lassen wir’s dabei. Vergeßt Bitsch. Hier gibt’s nix zu holen und nix zu sehen.
Erst als ich der Saar entlang nach Norden kurble, begegne ich wieder einigen Rad-Touristen. Wo ich vorher war, daran kann ich mich kaum noch erinnern. Irgendwas mit Schottland.
Erkenntnis des Tages: Dorfbesichtigungen in Frankreich sind super einfach. Nicht so wie bei uns, diese Straße rein, dann kleine Gasse links, zweite rechts, und dann wieder durch die Mühlstraße am Bach entlang, links, rechts, und dann der Hauptstraße nach wieder zurück, bis zur Kirche und dann links der Punkt, an dem du gestartet bist – und du hast so einigermaßen einen Eindruck vom Dorf. In Frankreich einfach nur gradaus, immer gradaus. Und wenn du hinten am Ende des Dorfes angekommen bist, hast du jedes Haus gesehen. Jedes. Ohne Ausnahme. Alle vorne an der Straße. Also an der einen Straße. Zweite Reihe gibt’s nicht. So einfach macht man es in Frankreich. Dorfbesichtigung für Anfänger. Mag ich sehr.