Wahl der Qual - Texter Sautter
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Wahl der Qual

Wahl der Qual

Etappe 11, St.Jean de Maurienne – Bourg d‘Oisans, 68 km, ca. 1.800 Höhenmeter

Dann halt Umweg, wenn uns der Galibier abtropfen lässt. Außenrum ist selten kürzer – in diesem Fall steiler zusätzlich. Unser Pass des Tages heißt Glandon. Eine absolute Schönheit. Aber auch eine permanente Erinnerung an den Galibier, vor allem im Wadengedächtnis. Aber wir haben uns das rausgesucht. Ein bißchen Abenteuer halt. Überschaubare Dosis freilich. Wir machen das ja öfter. Vielleicht hat das mit dem schlechter werdenden Gedächtnis zu tun. Weil wir uns an die Radler-Qualen nicht mehr so erinnern können. Und im Tagebuch steht ja auch wenig drüber, absichtlich. Dafür erwischt man uns häufiger bei Vergesslichkeiten. Fahren wir deshalb Rad, weil wir dadderig geworden sind? Weil wir die Leiden vergessen haben. Vielleicht müssen es deshalb die Alpenpässe sein. Weil es nicht die Wade ist, die das Hirn bei der Planung lenkt. Erinnerung an mich selbst: Nächstes Mal mit den Beinen denken, die hätten sich nicht den Glandon rausgesucht mit seiner spröden Rampe am Schluss.

Und trotzdem wurde mir fast jeder Wunsch erfüllt. Im unteren Bereich steckte ich tief in der Espressosschuld. Kaum ein paar Kehren darüber nachgedacht, dass Sonntagmorgen nicht jede Bar offen hat, tauchte ein denkwürdiger Gemischtwarenladen auf. Davor ein älter Herr mit vorgebogenem Kinn, verstärkenden Vollbart und maßgeschneidert ums Kinneck gebogener Pfeife. Den hätte der Michl nicht so derbe karikieren können, wie er tatsächlich aussah. Als ich das Rad an Geländer stellt gleich stilecht angeraunzt worden. Ich hab wohl die drei verzweifelten Geranientriebe am Wachstum gehindert. Der Greis hat ausgesehen wie ein Schäfer, so maulfaul war er allemal. Der einzige Gast auf jeden Fall. Vielleicht war er der Mann der Inhaberin. Vielleicht nicht. Eine tiefere Recherche verbot sich von allein. Ich war schlapp und brauchte den Espresso. Ein Wort zu viel, das war offensichtlich, hätte meinen Wunsch nach Dienstleistung extrem gefährdet. Ich hab noch nie ein Heißgetränk so mürrisch serviert bekommen wie von dieser Alten. Und noch selten so große Augen beim Scannen eines Raumes gehabt. Timetunnel! So hat das schon vor einem halben Jahrhundert ausgesehen. Alles original erhalten. Der Laden, ein Museum. Inklusive Hinterzimmer. Die unerledigten Papierstapel sind fast durch die Tür gequollen. Vermutlich hat die französische Steuerbehörde den Laden schon vor Jahrzehnten aufgegeben. Allzu gern hätt ich mehr erzählt, zum Beispiel wie die spröde Alte den Laden geerbt hat, ob ihre Souvenirs in der Auslage schon Sammlerwert haben und ob sie die Lotterielose für die Ausspielung vom 7. April 1979 noch an den Mann bringt. Aber ich nahm mit dem wichtigsten gern vorlieb: einem ebenso mürrischen wie wohlschmeckenden Espresso.

Auf den folgenden Höhenmetern begann ich mit meinen Übungen für die Weltmeisterschaften im Langsamfahren. Dabei macht man sich durchaus Freunde. 200 mindestens. Quasi Begleitschutz. Die Fliegen blieben mir treu, bis ich die Baumgrenze erreichte. Bißle Pig-Pen, falls jemand die Peanuts-Figur kennt, die immer eine Dreckwolke mit sich zieht. Jetzt weiß ich, wie es den Kühen geht. Man denkt ja immer, die Mücken wären lästig, aber irgendwann freundet man sich mit ihnen an.

In der abschließenden Rampe plötzlich Bananenschuld. Als wäre an dem wenig befahrenen Pass ein Kiosk. Und wieder erfüllte mir das Schicksal den Wunsch. Hier dem Pass war eine Verpflegungsstation für eine organisierte Radreise aufgebaut. Eine komplett unmürrische Holländerin reicht mir frische Früchte, soviel ich wollte. Träumchen. Abfahrt übrigens auch vom feinsten. Inklusive Schmerzerinnerung. Wer selbst radelt, wird es wissen: Es gibt nichts fieseres als eine steile Gegenrampe nach langer Abfahrt. Du denkst, Dir platzen die Muskeln wie die Seifenblasen. Plopp. Plopp. Plopp.

Erkenntnis des Tages: Kulinarik entschädigt für alles. Der Col de Glandon ist ein wunderhübscher Pass. Gefahren an einem Tag, an dem es absolut nichts auszusetzen gab. So schön die Radlerei. Man sollte es häufiger tun. Und morgen bin ich wieder superfit. Schließlich war Team Sky (heute Ineos Grenadiers) schon häufig in unserem Hotel. Könnte also sein, dass ich im selben Bett penne wie ein später Toursieger schlafe. Ich glaub, ist spür die Vibes von Chris Froome.