Dünne Luft - Texter Sautter
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Dünne Luft

Dünne Luft

Etappe 10, Tourette des France, St.Jean de Maurienne – St.Jean de Maurienne, 95 km, 2.450 Höhenmeter.

Viel zu glatt gelaufen, diese Tour bisher. Mal ausgewachsenes Dreckswetter. Mal gebrauchte Beine untendran. Mal rumgedreht, weil Hose vergessen (nicht die Radhose, Mensch, die hatte ich an). Sonst alles fluffig. Eigentlich nicht der Stoff, aus dem gute Reise-Tagebücher geschrieben werden. Ich erwähnte den Sportskameraden Dietrich Krauss, der in seinem Tagebuch die ewig wundervolle Frage formulierte: „Could you please send me back my tooth to Stuttgart?“ Das sind Meilensteine der modernen Radtagebuch-Literatur. Heut der große Galibier auf dem Programm. Auch Meilenstein. Wobei man erwähnen muss, dass uns die Galibier-Passage zuvor schon ein wenig beschäftigt hatte. Aber zuerst die Sportgeschichte. Der Galibier hat‘s verdient.

Der Riese ist der ausgewiesene Lieblingspass von Tour-Gründer Henri Desgranches. Nicht umsonst hat man auf seiner Südseite ein Denkmal für ihn aufgestellt. Desgranges liebte den Galibier wegen Schönheit und Höhe. Hier sollten die Helden geboren werden, über die er schreiben wollte. Oder fallen. Runde 2.600 Meter ist der Riese hoch. Dort oben führt ein 500 Meter langes Tunnel auf die Südseite. Die Straße über den Bergkamm wurde erst 1979 gebaut. Seither ist der Galibier rund 100 Höhenmeter höher. Emil Georget war 1911 der Erste am Galibiertunnel. Sein Kommentar ist überliefert: „Wenn sie schon einen Tunnel bauen wollten, warum haben die ihn nicht gleich unten gebaut“ Bis heute muss man zwei Pässe überwinden, bis man oben ist. Zuerst den Col de Télégrafe, dann geht’s 200 Meter runter nach Valloire. Dann geht‘s von 1.400 Höhenmeter rauf zum eigentlichen Galibier. Diese Nordseite gilt als klassische Anfahrt. Rund 50 Mal war der Galibier schon auf der Menuekarte der Tour. Obwohl er seine Zicken hat, wegen Höhe und Schnee.

Offen ist der Galibier gewöhnlich ab 1. Juni. Drum checkte ich vorgestern mit großer Gelassenheit, ob er nicht zickt. Tatsächlich meldeten einzelne Pässe-Portale, er wäre geschlossen. Also Anruf beim Hotelzu Fuße des Aufstiegs. Nö, er sei offen. Anruf bei der Touristen-Info Valloire: Im Moment geschlossen, aber wenn wir am Samstag fahren, wieder offen. Gestern spontaner Besuch bei einer anderen Touristin-Info. Ergebnis: Für Autos offen, für Fahrräder geschlossen. Hä? Wegen des Tunnels. Oben rum, die Kammhöhe, sei geschlossen. Aber Autos dürfen durchs enge alte Tunnel. Also fahren wir. Und wenn wir uns von einem Pick-up oben durch chauffieren lassen. Eine Alternativroute wurde entwickelt, aber verworfen. No Risk, no fun. Der Lieblingspass von Desgranges. Pflicht!

Erst neulich, bei der Tour 2022 war die Galibier-Nordrampe der Schauplatz des spektakulärsten Etappe seit Jahrzehnten. Bei dieser Austragung schien es nur darum zu gehen, welcher Slowene gewinnt. Primoz Roglic oder Tadej Pogacar. Vorteil Roglic: Er hatte das bessere Team. Zusammen waren Wout van Aert, Primož Roglič, Jonas Vingegaard und Steven Kruijswijk klar stärker als das Team UAE Emirates rund um Pogacar. Aber wie könnte ein Einzelner davon profitieren? Auf der legendären Galibier-Etappe 11 wurde die Taktik umgesetzt. Die Radsportwelt fiel aus allen Wolken. Schon 60 Kilometer vor dem Ziel griffen die Fahrer von Jumbo Visma abwechselnd an. Bei jeder Attacke musste Pogacar mit. Er wusste nicht, wer von Jumbo Visma gefährlicher sein würde. Vingegaard oder Roglič? Die beiden griffen abwechselnd an. Erst Roglič, dann Vingegaard, dann Roglič, dann Vingegaard. Van Aert war zu dem Zeitpunkt bereits vorne in der Ausreißergruppe. Hätte Pogacar einen Konkurrenten ziehen lassen, hätte dieser im Windschatten von van Aert kräftesparend zum Schlussanstieg gelangen können. Pogacar sass in der Falle. Er musste jede Attacke mitgehen. Am letzten langen Anstieg gingen ihm die Kräfte aus. Es war der Tag, an dem Vignegaard die Tour gewann. Als wir beide an diese historische Stelle kamen, wussten wir bereits, dass wir den Tag verloren hatten.

Bereits am Einstieg zum Télégrafe meldete eine Tafel die Sperrung. No Risk, no fun. Dann rauscht schon nicht der ganze Touri-Verkehr an uns vorbei. Am Télégrafe selbst: Gewissheit. Sackgasse Hilfsbegriff. Man sprach von Avalon. Und ich verstand nur Roxy Music. Ah! Avalanche. Also Lawine auf der Südseite. Tunnel geschlossen. Obenrum auch.

Andererseits: Wie schön können Sackgassen sein? Kaum Autos, kaum Motorräder, überall pfeifen die Murmeltiere. Auf 2000 Meter feiert eine Hochzeitsgesellschaft in einem Zelt. Der Parkplatz voller italienischer Boliden mit holländischen Kennzeichen. Hübsch. Innen salonschicke Grazien im üppigen Style. Außen: sportschicke RadlerInnen im puristischen Style. Aber man muss schon zugeben: Da oben wird die Luft dünn. Trotzdem ein einmaliges Erlebnis: Galibier ohne Verkehr. Da haben sich nicht nur die Murmeltiere gefreut. Der Michl oben am Tor noch um Durchlass vorgesprochen. Aber kein Desgranges geöffnet. Das hat der jetzt davon. Kein Besuch an seinem Denkmal. In der Bretagne wär ihm (und uns) das nicht passiert. Aber es hat ja der Galibier sein müssen.

Weiterer Vorteil: Wir durften die Nordrampe wieder runter fahren. Also genau dort, wo Tom Pidcock in der erwähnten Tour-Austragung auf der Abfahrt 4 Minuten auf die Spitze rausgeholt hat. Pidcock, der als technisch bester Radfahrer im Profi-Peleton gilt. Wie der da runter gebrettert ist: ohne Worte. Ein Messi des Radsports. Einer, der Kurven lesen kann wie Messi ein Fußballspiel. Messi sieht Pässe, die kein anderer sehen kann. Pidcock seht Kurven, die kein anderer sehen kann. Er fühlt das Ende der Kurve, und fährt den Kurvenscheitel traumwandlerisch sicher an, weil er weiß, sein Gefühl stimmt. Pidcock gewann diese Etappe am Ende in Alpe d‘Huez. Nie wieder wir es einen besseren Abfahrer geben. Nie wieder in der Geschichte des Galibier wird es einen Abfahrer geben, der sich häufiger umzieht als der große Michl Luz. Da sind die Models beim Prêt-à-Porter in Paris die reinsten Anfängerinnen. Was der Michl alles auf Lager hat! Der reinste Klamottenladen. Mich hätt‘ ja nicht gewundert, wenn er auf halber Höhe das Brautkleid der Holländerin aus der Radtasche gezogen hätte. Dabei hat er vor lauter Umziehen den schönsten Convoi des Jahres verpasst. Diese Laster, die ich erwähnte. Beim genauen Hinriechen: Auf jedem Laster eine Schafherde. Dann wieder ein Touristenbus, dann wieder eine Schafherde auf Rädern. Dann wieder eine Touristenherde auf Rädern. Dann wieder Schafe. Rausgeguckt haben beide gleich neugierig, die Touristen wie die Schafe. Ist doch schön, wenn in auch in eher unzugänglichen Region die Wirtschaft floriert.

Und wenn schon Rückweg dann konsequent. Wir hocken wieder im selben Hotel wie heute Morgen. Glücklich. Der Michl auf den letzten zehn Kilometer auf der breiten Staatsstraße gebrettert wie ein Weltmeister. Daneben die Autobahn. Daneben große Mühle beim Michl. Da war noch ordentlich was im Tank. Respekt! Da wären selbst die holländischen Hochzeitsgäste nicht schneller gewesen. Ich hab echt Bang gehabt, dass der Michl die Ausfahrt verpasst, so lief seine Maschine.

Erkenntnis des Tages: Wenn du dein Ladegerät im Hotel vergisst, ist es praktisch, wenn du abends wieder zurückkommst. Dann kannst du gleich im alten Zimmer klopfen, lernst dabei die frischen Hotelgäste kennen und ziehst dein Ladegerät dort wieder raus, wo du es am morgen hast stecken lassen.