Mythos in mini - Texter Sautter
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Mythos in mini

Grenzerfahrung, Etappe 8: Meerane -Zwönitz, 51 km, ca. 800 Höhenmeter

Meerane liegt irgendwo im Irgendwo bei Zwickau. Die Straße heißt „An der steilen Wand,“ irgendwo im Süden der westsächsischen Kleinstadt. Die kleine Rampe Steilewand ist 248 Meter Kopfsteinpflaster lang. Sie geht mit 11 Prozent rund 35 Höhenmeter hoch. An sich nichts besonderes. Und doch ein historischer Ort. Am Finaltag der Tour de France steh ich allein am Fuße des legendärsten Anstiegs der Friedensfahrt, der sogenannten Tour de France des Ostens. Zwei fahrradferne Personen wundern sich, warum ich diese komplett durchschnittliche Straßenecke fotografiere. Während die Welt auf die Champs-Élysées schaut, steh ich dort, wo schon lange kein Friedensfahrer mehr auftaucht. Der letzte Course de La Paix wurde 2006 das letzte Mal gefahren. In der letzten Ausgabe musste die steile Wand gleich dreimal bezwungen werden. 

Mir ist nicht ganz klar, warum es mir eigentlich wichtig ist, mal diese  Stelle gesehen zu haben. Die Filme, die den Eindruck von damals vermitteln, stehen im Web. Dafür muss man nicht nach Irgendwo-Meerane. Es gibt nichts, was ich hier Neues erfahre. Man hätte auch zu Hause googeln können. Ein Radklub hat eine Gedenktafel angebracht. Auch die radfahrfernen Touristen haben sie entdeckt. Der Text darauf findet sich auch im Web. Mehr ist hier nicht, auch kein Meer. Die Kleinstadt heißt so, weil Mer auf sorbisch Grenze heißt. Der Bach an der Wand heißt Meerchen. Wo das zweite e dazukam, wissen vielleicht die Sorben. Aber ich möchte an dieser Stelle bitte festgehalten wissen, dass ich hier war, am vielleicht einzigen, wirklich legendären Berg des deutschen Radsports. Mini-Mythos. Ich. Da. Super! Freu mich riesig. Die Steile Wand hoch geschlichen: ich! Wie einst Täve Schur, Uwe Ampler, Steffen Wesemann und Miguel Indurain. Mit denen darf man mich jetzt in einem Atemzug nennen. Wahrscheinlich sind alle in einem Atemzug hochgefahren. Alle außer mir. 

Genau hier starte ich zum zweiten Teil der Grenzerfahrung, meiner Mini-Deutschlandtour entlang der Ostgrenze. Freund Michl Luz, der mich in Teil eins begleitete, ist zu Hause geblieben. Ich kann jeden Menschen verstehen, der nicht durch halb Deutschland reist, um an einem x-beliebigen Kleinstadthügel mit Schild dumm rum zu stehen. Meerane im Irgendwo wohlgemerkt. Nicht Meran in Südtirol, dort wär‘s ja schön. 

Von meinem Freund Manfred stammt die Erkenntnis, dass man die Landschaft viel besser versteht, wenn man drüber rollt, sie in den Waden spürt. Man sagt ja auch, man sammle Erfahrungen. Redewendungen sind kein Zufall. Unmotorisiert sammelt man noch intensiver. Geht langsamer, und die Erfahrungen blasen schön die Waden auf. Zumindest bei Hobbystrampler. Bei Sportwagen sagt man, man spüre jeden Kieselstein auf der Straße. Auf dem Rad noch so viel mehr als doofe Steine. Und auf ostdeutschem Kopfsteinpflaster astreiner Spür-Overload.

Aber mal ehrlich: Hab schon mächtigere Wände befahren. Täve Schur hat gesagt, die Wand wäre deshalb so imposant erschienen, weil man unten um die Ecke kommt, und sie daher vorher nicht sieht. Könnte was dran sein. Und dazu noch der Titel, den wohl ein Reporter erfunden hat. Tut weh die Wand, aber die flämischen Hellinge stehen auf der nach oben offenen Fiesheitsskala noch eine Stufe drüber. Aber nicht vergessen: Die damaligen Staatsamateure hatten schwere Räder, schwere Gänge und mehrere schwere Etappen in den Beinen. Da hab ich leicht reden. Unter meinem Hintern ein Gerät, von dem sie damals gedacht hätten, es wäre aus der Weltraumforschung. Mit allem dran, nur kein Akku. Alles wegen der Erfahrung. 

Ich drehe ins Erzgebirge ab, um an die Route des ersten Teils der Grenzerfahrung anzuschließen. Traumhafte Landschaft, schöne Dörfer. Nicht alle so rausgeputzt wie die paar an der steilen Wand, aber viele mit Müh und Wollen aufgehübscht. Dazu leuchtet alles im Traumwetterchen. Mit meiner neuen orangenen Sonnenbrille sieht das noch schöner aus. Orange sticht rosarot, meine Meinung. Leider wird die primitivsexistische Werbung von Fußbodenleger Carsten Schmidt aus Hohndorf nicht besser, wenn man sie in orange taucht. Handwerkerhumor. Fußbodenleger noch dümmer als Dieter Nuhr. „Ich steh da“ nicht „drauf“ Dafür genieße ich die sächsische Gastfreundschaft in der neuen Brauerei Zwönitz. Ich verzieh mich ins Zimmer namens Schwarzbier. Endlich Niveau. Dort steht ein frisches Mineral, übrigens gleich links neben einer großen Flasche Schwarzbier, hausgebraut.

Erkenntnis des Tages: Kein cooler Move, Quartier in einer Brauerei zu buchen, wenn du diszipliniert radeln willst. Dabei wollt ich dieser Fernsehsportler-Gewohnheiten eigentlich… ach, Auf Euer Wohl, ihr Lieben

Bergwertung an der Steilen Wand
Rausgeputzt
Rechts oder links???
Niederlungwitz, kein Witz