22 Jun Goat Content
Spritztour (Etappe 3): Teufen – Weesen
Stellt Euch vor, wie ein Eichhörnchen den Baum hinauf wuselt. So ist der Michl heute die Betonwand hochpedaliert, die man als Nordrampe der Vorderi Höhi angelegt hat. Diese Feldwegspässe sind ja immer schön, aber auch schön steil. Läppische 73 Kilometer hatten wir heute, aber dank der Höhenmeter ist uns überhaupt nicht langweilig geworden. Der Reihe nach.
Wir starten in Teufen im Kanton Appenzell-Außerrhoden, durchqueren Appenzell-Innerrhoden um wieder via Appenzell-Außerrhoden in die südliche Ecke des Kantons St. Gallen zu gelangen. Das Appenzell extrem verwirrend. Unzählige große und kleine Hügel, die keinem System zu folgen scheinen. Da hat am Ende der Eiszeit wohl einer ein paar Schnäpse in den Gletscher gekippt, sonst wären die wirren Wellen der Landschaft nie entstanden. Das Ganze ist überzogen von feinsten Wiesenteppichen. Zu jeder Wiese gehört ein Hof. Hof hier, Hof da, ab und zu stehen die Höfe aneinander, dann ist Dorf. Holzfassaden-Contest in den Dörfern. Ständig neue Varianten. Alles zusammen sieht so aus, wie man sich die Alpen im Kinderbuch ausmalen würde. Sagen wir so: Auf der Puppenstubigkeitsskala die Hardcore-Variante von Oberbayern. Für uns Stuttgarter ist es lustig zu sehen, wie die Straßenbahn durch die feine Landschaft gleitet. Sogar im Punkt Mobilität ist das hier fein organisiert. Der Schweizer Postbus rauscht in hoher Frequenz an uns vorbei. Von wegen Stadtflucht. So muss Dorf oder Landschaft sein, denk ich mir beim Radeln, damit die Leute da bleiben. Und dann schaust du in die Geschichte und bist verwirrt. In Appenzell-Außerrhoden wurde das Frauenwahlrecht auf kantonaler Ebene 1989 eingeführt. Innerrhoden besteht aus fünf Gemeinden. Alle Wahlberechtigten der Dörfer treffen sich am letzten Sonntag im April zur sogenannten Landsgemeinde. Das ist sowas wie die Vollversammlung des ganzen Kantons. Direkte Demokratie. Und jetzt kommt‘s. Die Landgemeinde hat sich noch im Jahr 1990 gegen das Frauenwahlrecht ausgesprochen. Sie mussten von der Eidgenossenschaft gezwungen werden, das Frauenwahlrecht in ihren fünf Dörfern und tausend Höfen umzusetzen. Mannomann.
Bevor ich länger darüber nachdenken konnte, wie Puppenstubigkeit und Rückständigkeit zusammen gehören, und ob das in Oberbayern genau so sein könnte, waren wir bereits über die nächste stattliche Wiesenwelle in einen anderen Kanton geradelt. Da hörten dann die Wiesenwellen auf. Stattdessen Berge.
Erster Berg: die Schwägalp. Also direkt unterhalb des Säntis. Klassischer Aufstieg bei der Tour de Suisse. Wir nahmen jedoch die alte Schwägalp-Passstraße und wurden belohnt. Die Wolken, die sich um den Säntis sammelten hielten dicht, und gleichzeitig den Touristenstrom in Schach, der dort üblicherweise fließt. Also kein Säntisblick, aber auch niemanden wegschubsen, der einem vor Linse oder Vorderrad steht. Aus einem Stall werde ich angefeuert. „Hopp, hopp“ Alles deutet darauf hin, dass ich als Einheimischer wahr genommen werde. Oben angekommen mischte ich mich unter eine Herde Bergziegen, die vom Naturpark gehütet werden. Und siehe da: Aufgenommen in den Kreis der Schweizer Bergziegen. Mit wohlwollender Beiläufigkeit. So ne erfahrene Schweizer Bergziege hat ja was schwäbisches. Nix g’meckert, isch g‘nug g‘lobt.
Die guten Goat-Vibes sind zweifelsohne dafür verantwortlich, dass der Sturzregen pünktlich zu Mittag einsetzte. Da saßen wir bei Schüblig (ein Prachtexemplar einer Wurst) und Reis im Vortrefflichen Gasthof. Wir Rampensäue im Range einer Bergziege hatten uns für den Nachmittag die Vordere Höhi vorgenommen. Hört sich nach Wiesenhügel an. Wird aber vom Masochisten-Portal Quäldich gewürdigt. Am Rande des Gleichgewichts trete ich als frische Bergziege die Wand hoch, verfalle jedoch als geborene Schnecke zunehmend in alte Gewohnheiten. Der Schüblig schiebt auch nicht. Der Michl ein Eichhörnchen, frage nicht. Hatte den Gemüsereis geordert. Als der ruppige Feldweg nachgibt, wird der Blick nach Süden frei. Die Sonne schiebt ein paar Wolken weg. Wir springen aus fünfzehnhundert Höhenmetern direkt in den Walensee.
Erkenntnis des Tages: Wenn es um Chancengleichheit geht, nie die alten Böcke fragen. Wenn es um Kletterqualitäten geht, immer mit den Bergziegen sprechen.