11 Jun Fototapete
Etappe 13, Tourette de France, Mont Dauphine – Uvernet-Fours, 75 km, ca. 1.200 Höhenmeter
Es wird schwieriger. Die meisten Leute wollen ihren Kids eine bewohnbare Welt hinterlassen, in der sie sich frei bewegen können – und wählen dementsprechend. Doch die Anderen werden mehr. Sie glauben, man wolle ihnen was verbieten, wenn man ihnen bessere, verträgliche Angebote macht. Niemand zwingt sie Gemüse zu essen, zu gendern oder Lastenrad zu fahren. Aber sie hängen sich an banalen Kleinigkeiten auf, weil es ihnen plumpe Banalvorsager einreden. Dieter Nuhr ist noch einer der harmlosen davon. Das Gerede vom Gutmensch haben wir hinter uns. Jetzt ist grad alles „ideologisch“, was sich einigermaßen vernünftige Gedanken macht. Oder „Verbotskultur“. Ja, man darf seinen Müll nicht überall rauskotzen, dazu zählt auch Wortmüll à la Höcke. Die dumpfen Parolen verfangen, weil die Leute einfache Lösungen mögen. Es ist nicht weit hergeholt, dass die Tiktokisierung im Verbund mit Desinformation der Verdummung in die Karten spielt. Sowas wie „Ausländer raus“ ist dann eine Lösung. „Deutschland den Deutschen“, singt doch gut dazu. Das Klima sei doch eh am Arsch, sagen sie, schalten die letzten drei Hirnzellen aus und wählen diejenigen, die ihren ungerechten Hass auf alles Neue oder Fremde spiegeln. Warum die Renaissance des Fahrrads zu diesem Fremdartigen gehört, weiß der Geier. Vielleicht weil es die gefühlte Mehrheit der Autofahrer erstickt, die verzweifelt um jeden Parkplatz kämpfen als wäre er ihre Lebensgrundlage. Vielleicht ist heute ein guter Tag, um auf die politische Dimension des Radelns hinzuweisen. Keine mobilitätspolitische Belehrung, bitte nicht. Mal die historische Bedeutung des Pedalierens.
Fahrrad ist Freiheit. Im Mittelalter waren die Leute an ihren Ort gekettet. Mit dem Fahrrad erweiterte sich der Aktionsradius selbst für einfache Leute, für die ein Automobil finanziell in weiter Ferne lag, und mancher Bahnhof auch. Das hat unter anderem die Arbeiterbewegung im deutschen Kaiserreich beflügelt. Immer mehr Leute konnten sich treffen und solidarisieren. Damals gab es diese Trennung zwischen Arbeiterklasse und Bürgerlichen, die wir uns heute kaum noch vorstellen können. Das Fahrrad war für die Arbeiterbewegung ein Segen. Ende des 19. Jahrhunderts wurden Fahrräder in Deutschland massenhaft produziert. Die Arbeiterschaft hat, wo sie konnte, dieses Angebot angenommen. Auch in der Arbeiterklasse gründeten sich Radvereine. 1896 wurde der „Arbeiter Radfahrerbund – Solidarität“ in Offenbach ins Leben. Weitere Gründungen folgten. Die roten Husaren auf dem Rad! In den bürgerlichen Sportvereinen hatten sie eh keine Chance, aufgenommen zu werden. Die Arbeitersportler begannen ihre eigene Rad-Szene zu entwickeln. Wie bei vielen Sportarten mit anderen Prämissen als die Bürgerlichen. Es ging den Arbeitern nicht um Leistung. Das war ja der militaristische, konservative Ansatz. In der Arbeiterschaft ging es um Körperkultur, Körperbeherrschung und gemeinschaftliches Erleben. In diesen Vereinen wurde beispielsweise das Kunstradeln vorangetrieben. Außerdem war Rad-Touristik hoch im Kurs. „Et voilà!“ Jetzt sind wir beiden Rad-Touristiker zwar keine Klassenkämpfer, dazu sind wir viel zu privilegiert. Trotzdem sind wir der Arbeiterbewegung tief verbunden. Sie pflegte damals einen Wettbewerb, den wir täglich betreiben, wobei ich in aller Bescheidenheit anmerken möchte: Wir werden immer besser dabei: die Rede ist vom Langsamfahren. Ja, das gab‘s damals wirklich als Sportart. In Arbeiterklubs. Es gab sogar mal Weltmeisterschaften.
Heute bei uns ein Tag wie geschaffen fürs Langsamfahren. Nach den Bergetappen hatte ich nur noch geleeartige Masse in den Beinen. Nichts muskelähnliches mehr. Gleich gar nichts, womit man Druck auf Pedale bringt. Das Gute am Zu-Zweit-Radeln ist ja, dass man nicht kneifen kann wegen persönlicher Befindlichkeiten. Erstmal Aua. Das mit dem Sitz auf dem Sattel war schon besser. Immer diffiziler diese eine Position zu treffen, die noch zur Verfügung steht oder nach ein paar Kilometern von alleine taub wird. So genau weiß ich das selbst nicht. Also dem Michl hinterher. Irgendwie. Es sollte ja eine sogenannte Überführungsetappe sein. Kein spektakulärer Pass, einfach von A nach B um Strecke zu gewinnen. Und was soll ich sagen? Welch ein wunderbarer Tag! Spektakuläre Aussichten, einsame Straßen, feine Kneipen und zum Schluss bläst uns der Mistral mit 40 Stundenkilometer das Tal hinauf. Dass das noch möglich war!
Heute endlich Zeit für Fotopausen und entsprechende Resultate. Egal, wo du das Handy hinhältst: Abdrücken. Fototapete. Der Stausee im Vordergrund, sonnengeflutete Berge im Hintergrund. Als ich in der achten Klasse war, konnte man solche Poster bei irgendeinem Klassenkameraden sammelmitbestellen. Die Luft im Schatten noch kühl, der Regen nicht lange her, also trübt kein Stäubchen das Bild. In der Nachbearbeitung unbedingt die Sättigung aus dem Bild manipulieren. Die Farben glaubt dir ja kein Insta-Gucker. Dabei muss man sagen: Fotopausen sind ja unter Radlern im Verruf. Alle, wirklich alle, wissen, dass Fotopausen nur ein anderes Wort ist für Kann-nicht-mehr. Was unter Radlern in den Zeiten digitaler Fotografie an Datenmüll produziert wird, verstopft weltweit die Serverfarmen. Heute muss alleine wegen uns eine neue gebaut werden.
Tröstlich für mich zu sehen, dass auch der Michl leichte Schwächen zeigt. Dazu muss man wissen, dass sich in Frankreich die meisten Rennradler grüßen. Dazu lassen sie beide Hände am Lenker. Leichtes Wegspreizen der Finger genügt. Es sind Grüße der gegenseitigen Anerkennung. Machen die meisten. Ebenfalls typisch für Südfrankreich: In vielen Gemeinden sind Geländer mit Blumen geschmückt. Keine durchgezogenen Geländer wie bei uns. Eher zwei Meter Geländer, dann zwei Meter Lücke, dann wieder zwei Meter Geländer und so weiter. Sieht schon nett aus, vor allem wenn Blumenkästen dran hängen. Trotz allem kein Grund, ein einzelnes Blumengeländer zu grüßen, nur weil man es im Augenwinkel mit einem Radfahrer verwechselt. Also Geländer gleich Fahrrad und Blumenkasten gleich buntes Trikot. Da hab ich schon gemerkt, dass die Etappen beim Michl Spuren hinterlassen haben.
Abschließende Bemerkung zum Arbeitersport: Rad-Tourismus, Langsamfahren, sagen wir in meinem Fall statt Kunstradfahren „mit einem Künstler fahren“, dann stimmen Schwerpunkte zu den damaligen Ansprüchen. Und wenn das schon „ideologisch“ sein soll, umso besser. Drum sind wir immer freundlich zu den Menschen und manchmal auch zu Blumenkästen.
Erkenntnis des Tages: Die letzten 35 Kilometer unserer heutigen Etappe sind identisch mit den letzten Kilometern der 18. der Etappe der kommenden Tour. Barcelonette als Zielankunft. Das erklärt den Tiptop-Straßenbelag und die andauernden Baustellen vor Barcelonette. Alles wie immer fertig zur Tour. Halt kurz vor knapp