Verfall - Texter Sautter
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Verfall

Kaffeefahrt, Etappe 3, Bovec -Arta Terme, 95 km, 1.400 Höhenmeter.

Man muss auch mal die Vergänglichkeit loben. Nicht die körperliche. Gemeint ist die architektonische. Also die Vergänglichkeit des selbst geschaffenen Lebensraums. Vielleicht ist dieser Verfall schöner als die Entstehung. Ruine sticht Baustelle. Nicht, dass ich mich dieser Lost-Places-Euphorie anschließen mag. Diese Entdeckerei des Verfallenen hat ja längst Züge einer bemühten Sammlerei. Hauptsache dagewesen. Gerne auch eingedrungen in die Gebäude. Wichtig: selbst fotografiert. Und dann weiter zum nächsten Lost Place. Kann man so sammeln. Aber bitte aufpassen, dass man nicht selbst lost geht dabei. So wie wir heute. Nicht, dass wir von den Rädern gefallen wären, oder gar auf Kaffee verzichten mussten. Es war unsere Reiseroute, die professionellen Verfallstouristen alle Ehre gemacht hätte. Lauter Gebäude, meistens ganze Siedlungen, die aus unterschiedlichen Gründen verlassen wurden und dann verfallen. Darin kann man tatsächlich Gutes entdecken. Darum ein Lob auf den Verfall und auf die Natur, die mit ihrem alten Komplizen, dem Zahn der Zeit, sich das Verlassene zurückholt. In so vielen Fällen eine klare Verschönerung.

Zuerst will ich aber die Straße hoch zum Mangrt loben. Fürs Gesperrtsein. Zum Mangrt führt an normalen Jahren eine Stichstraße auf 2.000 Meter hoch. Schön soll sie sein. Aussicht grandios. Sagt man. Aber was gesperrt ist, macht uns nicht heiß. Der weitaus tiefer gelegene Predil reicht völlig. Über ihn kommen wir wie durch den Lieferanteneingang nach Italien. Früher hätte man gesagt: mitten in Gottes vergessene Gegend. Heute Lost-Place-Festival.

Jetzt warum läßt der Mensch Zeugs verfallen, das er mit Müh und Schweiß aufgebaut hat? In wenigen Fällen, weil er klüger geworden ist. Drum ist ein besonders löblicher Verfall die italienisch-slowenischen Grenzhäuser. Den ersten italienischen Caffè schnappen wir in Cave de Predil. Ein nahezu komplett verlassenes Bergwerksdorf. Ende der Sechziger noch 2.000 Einwohner, jetzt vielleicht noch 400. Der Rest der Häuser: ein einziger Verfall. Blei- und Zinkabbau lohnt sich einfach mehr. Die Leute sind fortgezogen. Wenn man ehrlich ist, irgendwie passt das Stück Erzgebirge auch nicht nach Italien. Der nächste Verfall dann hinter dem Neveapass. Statt Bergbau, jetzt Tourismus. Vorteil: Bei den riesigen Unterbringungen hat der Architekt vermutlich schon beim Planen an die Lost-Place-Qualität gedacht. Etwa die Hälfte der stattlichen Hotelbunker verfallen. Aber stilvoll. Sie dürften aus den Achtzigern stammen. Um manche wird noch mit Sanierungen gekämpft, um manche nicht mehr. Es ist abzusehen, dass der Kampf schon verloren ist. Wenn die letzte Caffèbar dicht macht, werden die normalen Touristen wegbleiben und die Verfallstouristen übernehmen das Kommando.

Der übelste Verfall von allen ist schließlich der in Portis am Fluss Tagliamento. Portis lag am Fuße eines Berges, der nach Erdbeben instabil wurde. In den Achtzigern wurde der Ort aufgegeben und einige Kilometer nördlich wieder aufgebaut. Erst ausziehen, dann verfallen. So muss die Reihenfolge. Bitte nicht andersrum. Plötzlicher Verfall ist der Tod jeder Schönheit.

So ist das, wenn du durch den Lieferanteneingang kommst. Nicht immer alles aufgeräumt im Keller und dem Souterrain. Aber gerade der verlassene Ort Portis stimmt optimistisch. Die Leute sind längst weg. Dafür ist die Natur wieder da. Selbst mehrstöckige Häuser sind von Pflanzen überwuchert. Sicherlich ein Abenteuerspiel für viele Tiere. Es sei ihnen gegönnt.

Beim Stichwort Verfall darf natürlich der Blick auf die eigenen Waden nicht fehlen. Ob das jetzt so ästhetisch geschieht… ach, lassen wir das. Passend dazu haben wir ein sogenanntes Grand Hotel bezogen. In Arta Terme. Hat jemand schon mal in Bad Liebenzell übernachtet? So etwa. Mit lachsfarbenen Wänden und Säulenspringbrunnen in der Mitte. Und eher wenig Grandezza, dafür ein Hauch von Aida, also Kreuzfahrt. Und wir sind nicht die einzigen Gäste, bei denen der Verfall eingesetzt hat. Mit anderen Worten. Wir fühlen uns pudelwohl. Schade nur, dass Michl keine golden Badehose shoppen konnte. Die hätte hier mächtig Eindruck gemacht am Hotelpool.

Erkenntnis des Tages. Essigsprays sind klasse. Manche mögen da auch einen Verfall erkennen. Ich nicht. So ein Spraykopf auf der Essigflasche dosiert gut und verteilt die feine Säure gleichmäßig auf den Salaten. Ist zwar auch irgendwie Rimini, so ein Essigspray, aber bitte. Wäre die Welt von sparsamen Gastronomen regiert, würden wir alle weniger verschwenden. Und wenn der Essig nichts taugt, nimmt man ihn halt als Haarfestiger.

Slowenien
Slowenisch-italienische Grenze
Cave di Predil
Cave di Predil
Portis
Kurz vor Arta Terme