25 Jul Zerstrittene Sprungschanzen
Deutschland-Protokoll (Etappe 7) Tiefenort – Coburg, 123 km, 1300 Höhenmeter
Bevor mir in Tiefenort zu nostalgisch wurde, machte ich mich vom Spielfeld. Dorthin, wo sich Ostalgie schnell in Luft auflöst. Richtung Oberhof, also in den Wintersportort, von dem man schon vor hundert Jahren sagte, er wäre ein kleine St. Moritz. Praktisch „Thüringische Schweiz“. Komisch eigentlich, dass die Thüringische Variante unter dem 105 Schweizen in Deutschland nicht vertreten ist. Aber das könnte daran liegen, dass Oberhof noch ein verlassener Weiler war, als die Schweiz-Benamsungen Mode waren. 1906 kam die Bobbahn, bald ein Golfplatz für den Sommer, dann Sprungschanze und andere Anlagen. Dann kamen die Nazis, und danach nichts, was langfristig super war. Kurzfristig war es für viele Oberhofer die Fortsetzung des Terrors.
Eigentlich wollte ich ins ehemalige Gästehaus des DDR-Ministerrats. Das ging schief. Der verfallene Prunkbau von Walter Ulbricht war weiträumig abgesperrt. Just in diesen Tagen wird gemeldet, dass Investoren aus der Ruine ein Biohotel machen wollen. Ob das so kommt, sollte man abwarten. Es gab schon viele Pläne. Passiert ist nichts. Das abgelegene Anwesen ist längst ein Abenteuerspielplatz für Lost-Places-Fotografen. Im Netz sind viele Aufnahmen zu finden. Das World Wide Web kommt an dieser Stelle ohne meine fotografischen Beiträge gut zurecht.
Mehr als 150 wurden abtransportiert. Näher als 50 Kilometer surfen sie nicht mehr an das Hab und Gut, dass sie selbst in ihrer Heimat aufgebaut hatten. Die Bahn war frei fûr den Bau sozialistischenr FDGB-Ferienheime. Oberhof, der SEDs Liebling.
Im Winter kommst du an Oberhof nicht vorbei. Man könnte fast eine Olympiade dort veranstalten, ohne jeden Neubau. Bobbahn, Biathlon, Langlauf, alles wäre vorhanden. Sprungschanze sowieso. Was allerdings kein Reporter je bei den Übertragungen erzählt, ist die fatale Geschichte. Ein Verhängnis war‘s, dass Ulbricht so gerne hier war. Am 13. November 1950 kamen auf Ulbrichts Befehl die Möbellaster und nahmen die Leute mit. Nicht alle, aber vor allem diejenigen, die in den Plänen der Führung nicht mehr vorkamen. Sie wurden enteignet, verfrachtet und deportiert. Es traf vor allem Hoteliers, ihre Familien und Angestellten. Der Gewerkschaftliche Feriendienst übernahm die Unternehmen. Im sozialistischen Sprech hört sich das wie folgt an: „Nunmehr ist der Ausbeuterklasse auch im Erholungswesen die Basis entzogen und sozialistischen Eigentumsverhältnissen der Weg geebnet worden.“ Die Leute durften sich Oberhof nicht mehr nähern. Auch in anderen Ferienorten wurde Platz geschaffen, um via FDGB-Feriendienst die Touristische Einheitsabfertigung der Arbeiterklasse auf den Weg zu bringen. Viele Urlaubssilos sind abgerissen. Das die Ulbricht-Nobelherberge zerfällt. Das Hotel Panorama, das aussieht wie zwei zerstrittene Sprungschanzen, steht noch. Man könnte die Idee der jugoslawischen Architekten von 1969 fast gut finden. Aber ein Absatz hinter der Vertreibungsgeschichte fällt die Trennung von Baukunst und Auftraggeber schwer.
Außerdem: Warum sind die Architekten nicht konsequent gewesen und haben das Hotel mit einer echten Sprungschanze kombiniert? Das passt doch bestens! Symergiefestival. Schanzen stehen stets hoch oben, wo man Aussicht hat. Unter dem Anlaufturm ist jede Menge Raum. Für Zimmer. Oder für festen Wohnraum. Die Seilbahnen, die die Springer an den Schanzenturm bringen, wären das ganze Jahr ausgelastet. Das sind ganz neue Perspektiven für den Sprungschanzenbau. Die Hotels hätten im Weltcup weltweit kostenlose Dauerwerbesendungen. Ich darf das gar nicht weiter denken, sonst kippe ich vor Genialität gleich aus dem Sattel.
Erkenntnis des Tages: Im äußersten Süden Thüringens zerschneidet sich der Dialekt sehr unvorteilhaft mit dem Fränkischen. Am Ende kommt eine Sprache heraus, die eher an empörtes Hundegebell erinnert. Immerhin wusste der angetrunkene Einheimische zuverlässig, dass man in der gesamten Kleinstadt Eisfeld gegen Vier am Nachmittag, keinen Kaffee bekommen konnte. Seinem Gebell war zu entnehmen, dass vier Kilometer die Bundesstraße entlang eine Agip kommt. Eine ganze Kleinstadt ohne Coffee-to-go. Man kann in Deutschland 2021 noch echte Abenteuer erleben.