Drecksack - Texter Sautter
19658
post-template-default,single,single-post,postid-19658,single-format-standard,ajax_fade,page_not_loaded,,footer_responsive_adv,qode-theme-ver-9.2,wpb-js-composer js-comp-ver-7.9,vc_responsive

Drecksack

Bergerfahrung, Etappe 9, Pocol bei Cortina d‘Ampezzo – Canazei, 63 km, 1850 Höhenmeter

Friedhof der Champions, Korridor der Angst, Tal des Todes. Wir wussten vorher, dass der Passo Fedaia ein Drecksack ist. Grad, wenn man ihn von der Ostseite fährt. Wir waren auch so vermessen, den Passo Giau zum Frühstück zu verspeisen. Vor dem Fedaia. Der Giau ein Schätzchen. Lieblich windet er sich durch den Wald, abwechslungsreich, mal hier lang, mal da durch, kurz mal ein Flachstück, um brav zu trinken, weitgehend windgeschützt. Dem Giau musst du lieben. Wir waren so früh dran, dass wir trotz Samstag kaum Autos und überhaupt keine Motorräder hatten. Oben auf 2.100 Metern Zufallstreffen mit unseren australischen Freunden von gestern. Fototermin für eine Spaßrallye. Späßchen hier, Hallo da, alle gut drauf, ist ja auch ein schöner Morgen. Für Mittag Regen angesagt, daher weiter, die Abfahrt nach Caprile runter, mehr als 1000 Höhenmeter feinster Abfahrtsspaß. Wird schon nicht so schlimm werden, der Fedaia, wir wissen ja, dass er etwas unbequem sein soll. Aber geschenkt kriegst du eh nichts. Die übertreiben doch, ist halt auch nur ein Pass.

Nein.

Zuerst wiegt er dich in Sicherheit der Drecksack. Lieblich geht er los, warm ist‘s auch. Hinter Sottoguda lässt er Dich in eine imposante Schlucht schauen. Läuft doch. Sind ja nur noch 600 Höhenmeter. Irgendwo muss ne fürchterliche Gerade kommen. Aber schon in dem Moment, in dem du auf diese Gerade wartest, hat dich der Drecksack dran gekriegt. Schon lange vorher, macht er dir mit konstanten 12 Prozent die Beine weich. Mit einem leichten Haken sozusagen, aber der sitzt. Der Fedaia gönnt dir einen Blick auf die Marmolata, aber halt von so tief unten, dass der Berg auch nur ein Berg ist und kein toller Anblick. Kurven hat er der Fedaia kaum noch im Angebot. Schnörkel sind nicht Seins. Es geht streng monoton aufwärts und du bist noch nicht mal an der gefürchteten Geraden. Hinter der Geraden gehen die Serpentinen los, wenn du nur schon dort wärst. Ich bin fast schon am Ende, als ich den Anfang der Endlosigkeit erreiche. Man sieht ungefähr anderthalb Kilometer weit. Meine Abwehrstrategie: Ich schau auf den Belag direkt vor dem Vorderrad und ignoriere die psychologische Fiesigkeit des Drecksacks. Konzentration aufs Jetzt. Das Treten der Kurbel. Irgendwie Belastungsyoga. Aber der Fedaia kontert. Plötzlich böhiger Gegenwind. Aua. Danke auch. Die Gerade beschreibt die Steigung einer Parabel. Steiler werdend und Gegenwind. Du trittst trotzig wie ein angeschlagener Boxer bei Acht. Glaubt dir der Ringrichter, dass du noch kannst? Nach anderthalb Kilometern, kurz vor dem Refugio Campanna Bill (blöder Name) sind‘s fast 18 Prozent. Der Drecksack zieht Dir langsam die Schlinge um den Hals. Die Luft ist mir sowieso zu dünn, und zu kalt im übrigen. Ich flüchte mich in die Serpentinen. Noch 250 Höhenmeter.

Plötzliche Erkenntnis: Die Serpentinen sind halt auch nicht flach. Drei Rampen von 15 Prozent vermasseln dir den letzten Stolz, den du noch gegen den Fedaia in Stellung bringen könntest. Der Drecksack hat dich in der Ringecke. Jetzt kannst du nur auf Zeit spielen. Verkehr ist keiner, also Zickzack gegen die Rampe schleichen. Mach keine hektischen Bewegungen, sonst knockt er dich aus, mit einer fiesen Böh von vorne. Schleich dich um den Bergvorsprung rum. Wind egal. Da ist die Passhöhe, mit Hütte. Du lebst noch. Einigen wir uns auf Unentschieden. Natürlich schon lange geschlossen, die Dreckshütte. Da vorn, wo der Wind herkommt, ist der Stausee. Nicht mal den kriegt er voll, der Drecksack von Fedaia. Da drüben ist die Staumauer. Belag Kopfsteinpflaster, und von drunten aus dem Fassatal zieht Regen hoch. Ach…

Am Fedaia hat Alex Zülle mal das Rosa Trikot abgeben müssen. „Mit den Unterhosen“ fügte ein Italienischer Reporter dazu. Letztes Jahr war die Ostrampe der letzte Anstieg der letzten Bergetappe, also wie Finale ums Rosa Trikot. Ende langen Geraden ging der Führende Ecuadorianer Richard Carapaz ein. Er war isoliert, kein Teamkollege mehr bei ihm. Jau Hindley von Bora Hansgrohe übernahm rosa, unter anderem weil sich Teamkollege Lennard Kämna zurückfallen lies zu Hindley. Gemeinsam fuhren sie Carapaz aus den Schuhen. Vor Campanna Bill sind schon viele Helden eingegangen.

Erkenntnis des Tages: Wenn du denkst, dass dich vor einer arschkalten Regenfront auf der Abfahrt nichts mehr rettet, steht plötzlich ein feines Restaurant mitten im Pass. Wir treten ein. Im selben Moment öffnet der Himmel seine Dämme. Braun werden wir heut nicht mehr. Leckere Scampis tauchen auf als Gruß aus der Küche. Der Drecksack kann uns mal. Erst als das Personal sich kurz vor drei Uhr nachmittags aus dem Staub macht, verlassen wir unseren kulinarischen Schutzbunker. Was ein geiler Tag.

Campanna Bill am Fedaia
Fedaia Stausee
Fedaia Passhütte
Passo Giau