Balkon - Texter Sautter
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Balkon

Bergerfahrung, Etappe 8, Lago di Misurina – Pocol bei Cortina d‘Ampezzo, 60 km, ca. 800 Höhenmeter

Ikonische Gipfel. Ikonische Auffahrt. Die Sackgasse zum Refugio Auronzo, das direkt unter den Drei Zinnen steht, ist eine der klassischen Anstiege des Giro. 1967 standen die Tre Cime de Lavaredo erstmals auf dem Giro-Programm. „Berg der Schande“ schrieben die Zeitungen danach. Die Fans hatte wohl ihre Idole teilweise hochgeschoben. Bei mörderischen 19 Prozent Steigung, nicht nur als Rampe sondern anhaltend, keine ganz schlechte Idee. Die Etappe wurde damals nachträglich neutralisiert. Schon ein Jahr später war der Anstieg wieder auf dem Programm. Eddy Merckx war der erste echte Sieger am Refugio. Als wir am hellen Morgen direkt vom Frühstück in den Berg fuhren, stand keiner da, um zu schieben. Aber die Sonne stand da, wo sie hingehört. Kam ich normaler nicht ab, gradwegs morgens in die Rampe. Heute Ausnahme.

Eigentlich sind’s nur 5 Kilometer, die Sackgasse hoch zum Refugio. Balkon der Welt Hilfsbegriff. Also bitte, etzt nicht übertreiben. Aber das Ding ist einzigartig. Und wir können das Gepäck in der Pension lassen. Reinhold Messner hatte schon vor 15 Jahren gefordert, die weltschönste Sackgasse für Autos zu sperren. Um die Anmut der Drei Zinnen zu bewahren. Lange waren die Initiativen erfolglos. Bis das Parkplatzproblem am Refugio zum Himmel stank. Jetzt zählt man an der Zahlstelle penibel mit. 700 Fahrzeuge dürfen gleichzeitig oben sein. Mehr nicht. Die Betreiberin unserer Pension meint, dass der Stau an der Schranke an Sommerwochenenden gerne drei Kilometer lang werden könnte. Da sind wir fein raus. Müssen halt selber treten. Nach der Zahlstellen-Schranke geht‘s nochmal kurz runter, dann beginnen die vier längsten vier Kilometer der Radsportgeschichte. Michl hat im Film meine Sequenz schneller laufen lassen als sie war, weil man sonst gedacht hätte, der Film wäre ein Standfoto. Dank der Autobegrenzung kann man als Radler oft zickzack fahren. Ich schäme mich nicht. Sogar absteigen zum Fotografieren ist schwierig, weil man im langen Steilstück kaum wieder aufs Rad kommt. Ein Fotohalt war unvermeidbar, der Rest wurde pflichtschuldig durchgetreten. So ne Bergübersetzung wie am Michl Zahnarzt-Tretferrari wäre hilfreich. Ich muss reintreten wie ein Schmied, eigentlich einen Gang zu dick und komme kaum vorwärts. Egal. Weil grandiose Belohnung. Da oben stehst du, als würdest du im Hubschrauber sitzen, nur mit festem Boden. Die fantastischen Gipfel der Dolomiten sind so nah, dass sie Michl fast mit seinen ausgestreckten Armen berühren kann. Besser geht‘s eigentlich nicht, zumal die Namen auf der Fahrbahn fürs perfekte Radsportflair sorgen. Genau vor einer Woche waren Geraint Thomas und Primoz Roglic raufgefahren. Vorletzte Etappe des diesjährigen Giro. Leider verlor G. Thomas knapp vor der Ziellinde wichtige Sekunden auf Primoz Roglic. G. Die coolste Socke im Feld. Fan der walisischen Rugby-Nationalmannschaft. Autor des Buches „Die Berge und wie ich sie sah“ . Unbedingte Empfehlung. Besser als Tagebuch. Nicht nur radlerisch. Versprochen.

Nach den Drei Zinnen war beim begeisterten Seniorengrupetto natürlich die Luft raus. Wir sind dann nach Cortina d‘Ampezzo abgefahren. Und noch auf der anderen Seite 300 Höhenmeter rauf bis zum Hotel. Bei uns läuft das inzwischen als halber Ruhetag. Weißwein am Abend. Man sollte so erwachsen sein, um seine kleinen Siege zu feiern. Am Tisch neben uns lernen wir ein taufrisches Ehepaar auf Hochzeitsreise kennen. Aimee und Nick aus Melbourne. In Rom geheiratet – Flitterwochen auf dem Rennrad. Mit ähnlicher Reise- und Gepäckstrategie wie wir. Nice to meet you. Wirklich.

Erkenntnis des Tages: Überall Oldtimerreisen, Porsche, Ferrari, sonstwas. Häufig in Gruppen. Alter der Teilnehmer ungefähr wie gestern die Senioren-E-Bike-Gruppen. Nur bei den Oldtimerreisen besser frisierte Leute. Eher so Michl-Frisuren. Vorne kurz, hinten flott. Ausgerechnet in Cortina weniger Protzkärren. Könnte daran liegen: Vor rund zehn Jahren zogen 80 Steuerfahnder nach Cortina, um Supersportwagenfahrer und Luxusautobesitzer zu kontrollieren. 251 Luxusautos angehalten. 133 waren auf Privatpersonen zugelassen. Jeder einzelne Besitzer musste offenlegen, wie die teure Schüssel finanziert und unterhalten wird. Seitdem angeblich mehr Kleinwagen in Cortina. Michl und ich nicht kontrolliert. Trotz Michls Pinarello.

Anstieg
Lago Di Misurina