20 Jul Nüscht
Deutschland-Protokoll (Etappe 3 ) Hitzacker – Tangermünde, 129 Km, 390 Höhenmeter
„In the middle of Nüscht.“ So heißt das Buch der Altmärkerin Jana Henning über ihre Heimat. Wenn man so durchfährt, könnte man meinen, es hätte nur leere Seiten. Altmark also. Ich wollte das so. Ein Tag Strampeljoga. Viel Zeit zu Meditieren. Kurven gibts nur alle drei Kilometer. Doch bis ich in der Altmark war, musste ich erstmal durchs Wendland.
Weil ich’s gestern schon von merkwürdigen bis nicht-existenten Staaten Deutschland hatte: Republik Freies Wendland (RFW). Die Anti-Atomkraft-Bewegung hatte die RFW 1980 gegründet. Sie entstand um die Probebohrungen zu verhindern, mit denen im Salzstock nahe Gorleben die Eignung als Atommülllager nachgewiesen werden sollte. Schon 1975 wurden dort Waldbrände gelegt. Komischerweise genau dort, wo das Atommülllager entstehen sollte. Überm Salzstock war wie durch Zufall eine nutzlose Brache entstanden. Jetzt konnte sie günstig von der Atomentsorgungsgesellschaft erworben werden. Die Vorgänge machen heute noch fassungslos. Während der Proteste wurde im Jahr 1980 die Republik Freies Wendland ausgerufen. Halb Westdeutschland fragt sich, wo das wohl ist. Wendland, nie gehört. Die RFW existierte nur einige Monate. Ich stattete heute dem Wald und der Gedenkstätte meinen Staatsbesuch ab.
Wendland ist eine Ecke Niedersachsens, die der Radfahrer sehr gut als Vorbereitung fürs Nüscht nutzen kann. Von Gorleben durchs Fast-Nichts führte mein Weg ungefähr an der Elbe entlang bis Schnackenburg, der kleinsten Stadt Deutschlands. Ich wollte mich noch verpflegen. Aber daraus wurde nüscht. Kein Laden in Schnackenburg. Nicht mal ne Flasche Wasser kannst du dir hier kaufen. Nichts da. Kein Aldi Nord. Kein Aldi Süd. Kein Netto. Kein Hundenetto. Nichts. Klar, wer will denn schon nach Schnackenburg, um sich verstechen zu lassen? Der Name ist keine Werbung für den Standort. Andererseits, die Schnacken werden schon vor den Menschen da gewesen sein. Erste Rechte für die Stechviecher. Stillschweigend gewinnen sie in Schnackenburg den Kampf gegen die Menschen. Bald ist keiner mehr da. Dauert nicht mehr lang.
Vom Fast-Nichts ins Nüscht. Wenn man es weiß, wundert man sich über alles, was dennoch vorhanden ist. Ich erreiche Deutsch. Wollte ich sehen. Deutsch ist ein Ortsteil von Zehrental. Ich protokolliere: Es steht nicht gut um unser Deutsch. Ein paar Häuser entlang einer Straße. Wenige in gutem Zustand. Viele runtergelassenen Rollläden. Vieles ungepflegt, beinahe alles. Ein Ort weiter erscheint meine Rettung. In Groß Garz ist noch ein Laden aus der DDR-Zeit über geblieben. Die Dame, die den Laden betreibt, vermutlich ebenfalls. Sie macht mir eine exzellente Bockwurst warm und gibt mir was in die Trinkflasche. Groß Garz ist der Hauptort. Deutsch nur ein Teilort. So erklärt mir ein Kunde vor dem Laden, warum Deutsch so verwahrlost sei. Alles zum Amtssitz. In Groß Garz gibts sogar Blumenbeete entlang der Straße.
Überhaupt: Ein Altmärker spricht mit mir. Freiwillig. Jana Henning erwähnt in ihrem Blog, es gäbe hier nur fünf Wörter. och, uff, nüscht, keene und nee. Ich dachte schon, weil man hier nur selten jemandem begegnet habe sich die Sprache zurückentwickelt. Stimmt nicht. Wenn der Altmärker mal jemandem begegnet, plappert er ganz munter. Die seltene Gelegenheit weiß er zu nutzen. Sehr freundlich.
Sonst stimmt wohl alles, was man so liest. Bevölkerungsdichte Altmark: 36 Leute pro Quadratkilometer. Restliches Sachsen-Anhalt: 113. Bundesrepublik: 229. Viel Raum um zu Strampeln. Sehr viel Raum. Sehr viiiiel. Topfeben dazu. Dem Radler kommt’s so vor, als trete er auf der Stelle. Der Altmark auch. Auf den Friedhöfen rund um die Kirchen sind die Gräber locker angeordnet. Sogar unter den Toten ist noch Platz. Reicht auf Jahrzehnte hinaus.
Erkenntnis des Tages: Knochensteine heißen Knochensteine, weil sie dem Radler ordentlich auf die Knochen gehen. Knochensteine sind keine Lösung für die Mobilität unserer Zeit. Niemals. Geh mir fort mit Knochensteinen.