09 Jul Monte Carlo
Buckelgezuckel, Tag 3
Dem Durchschnittlichen haftet Negatives an. Es ist nicht der Rede wert. Nichts Besonderes, also nichts zum Erzählen. Journalisten kriegen hektische Flecken vom Durchschnitt. Dabei ist er wirklich super. Ich muss das wissen. Früher in der Schule brauchten die Lehrer kaum den Notendurchschnitt ausrechnen. Einfach meine Note nehmen. Fertig. Viele Schuljahre war ich ein durchschnittlicher Schüler, später war froh, den Durchschnitt zu erreichen. Ich erinnere mich heute daran, als ich feststellte, dass die Gegend hier nichts Besonderes hat. Nichts zum Gucken. Nette Dörfer zwar und Kleinstädte, meist liegt ein Buckel dazwischen. Manche tragen nette Namen mit L, Linsengericht oder Lieblos. Aber sonst? Wetterau, Vogelbergskreis. Man muss in Geografie besser als Durchschnitt gewesen sein, um zu wissen, wo das auf der Landkarte rumfährt. Oder bei den braunen Autobahnschilder extrem gut aufpassen. Aber ich will nicht ungerecht sein. Ich gebe zu: Hätte sich irgendwo in der Landschaft etwas Besonders versteckt, hätt ich’s nicht gesehen.
Mit dem heutigen Tag ist meine Mission eigentlich schon erfüllt. Ich wollte dorthin, wo sich sonst kein Tourist verirrt. Das empfehlen die Krisenexperten. Nicht dahin reisen, wo es überlaufen ist. Jetzt bin ich hier. Neuhof bei Fulda. Genau unterhalb des Monte Kali. Die Abraumhalde thront mächtig über der kleinen Stadt. Sie stellt sie in ihren Schatten, hätt ich an einem anderen Tag geschrieben. Piloten wissen, dass sie in der deutschen Mitte um manche Kalimanscharos herum fliegen müssen. Gut fürs Grundwasser sind sie nicht. Aber als Landmarke! Ist ja schon was besonderes. Skilift oder Downhillstrecke hab ich leider nicht entdeckt. Aber es gibt den Rad- und Skiclub Monte Kali. Es besteht also Hoffnung. Heut um sechs haben sie sich zur wöchentlichen Ausfahrt getroffen. Allerdings ohne mich. Ich bin schon nass.
Das schönste Blau, das ich heute sah, war das der Mülltonnen. Eher unterdurchschnittliches Wetter heute. Viele Wirtshäuser heißen Sonne. Offen hatten die wenigsten. Corona ist ein Sauhund. Tourismus gibts hier eh nicht. Und die Einheimischen kaufen Fertiggerichte im Penny. Hätte mich heute auch nicht getraut einzukehren. Sonst wär wieder eine Wirtschaft geschlossen worden, wegen Überflutung. Die Vogelsbergkraxelei ließ ich sein. Keine Tour, die sich im November empfiehlt. Stattdessen pausierte ich an einer autoritären Scheune in Radmühl. Das Tor war übersät mit selbstgemachten Holztafeln voller Sinnsprüche. Bauernregeln, Oköbelehrungen und andere Weisheiten. Aber so ist das halt, wenn du es fotografierst: In dem Moment tritt der schräge Künstler heraus, und du kommst ums Fachgespräch nicht umhin. Erstmals an diesem Tag war es gut, dass ich nass war. Tut mir leid, Unterkühlung droht. Ich strampel weiter.
Erkenntnis des Tages: Schönes Wetter – schöne Gegend. So ist das halt auf Reisen. Hier gibts nur Eighty Miles of Grey. Vermutlich bin ich der Mitte des Landes ziemlich nah. Darum kann ich sicher sagen: Die Zeit, in der Wahlen in der Mitte gewonnen werden, ist in diesem Land ein für allemal vorüber. Ich muss das wissen: Ich, der ein Prophet vom Monte Carlo (oder so ähnlich).
Buckelgezuckel, Tag 3: Alzenau – Neuhof bei Fulda: 80 Kilometer, ca. 750 Höhenmeter.