03 Okt Reiseziel: Hölle
Ronde, Etappe 9: Kortrijk – Roubaix – Kortrijk, 80 Kilometer, 230 Höhenmeter
Vom britischen Autor Jonathan Meades stammt die These, dass den Nordeuropäern die Überlegenheit des Südens von Geburt an eingetrichtert werde. Die mediterrane Lebensart, die Kunst, die Architektur, das Essen, der Sex, das alles sei so viel geschmackvoller als das, was man im Norden zustande bringe. Meades folgert daraus, dass die Nordländer den Norden genau so verbittert lieben würden wie ihr hässliches Kind. An seine These erinnere ich mich, als ich bei trostlosen zehn Grad nach trübem Dauerregen Roubaix erreiche. Mal unter uns Jonathan, wenn ich zwischen einem Vorort von Neapel und einen Vorort von Roubaix wählen müsste, könnte sein, dass ich in Roubaix nur Urlaub von Neapel machen würde. Als neutraler Mitteleuropäer könnte man in Roubaix auf die Idee kommen, dass der Süden tatsächlich angenehmer ist.
Mein Urlaub endet an einem nassen Sonntagmittag. Kaum jemand auf der Straße – und die paar schauen mich an als wäre ich ein nerdiger Radtourist, der das Stade Velodrome nicht findet. Kein Hinweisschild übrigens. Warum auch, wer will schon da hin, außer an dem Tag, an dem der Klassiker Paris-Roubaix zu Ende geht. Heute wär ein prima Wetter für dieses Monument des Radsports. So wie letzten Herbst, als alle Fahrer mit Ganzkörper-Matschmaske ankamen. Weil erst bitterer Regen, dann zarte Sonne, und der Dreck trocknet auf der Haut. So weit bin ich noch nicht. Ich stecke im Regen fest. Sonne ist nicht angesagt. Roubaix erscheint mir nicht nur als Ende meiner Tour, sondern als Ende der Welt. Ziemlich abgefuckt, man kann es nicht anders sagen. Vielleicht gibts schönere Stadtviertel und manchmal Sonne, aber nicht auf meiner Route und nicht heute.
Im Zusammenhang mit Roubaix wird stets von der „Hölle des Nordens“ gesprochen. Damit sind nicht nur die Kopfsteinpflasterwege von Arenberg und das Carrefour de l‘Arbre gemeint, sondern wohl auch die Lebensbedingungen. In der Tat: Roubaix gilt als ärmste Stadt Frankreichs. 46 % der Einwohner verortet man unter der Armutsgrenze. Seit Textilien in riesigen Mengen aus anderen Elendsgebieten kommen, ist Roubaix am Arsch. Trotz Regen kann man es förmlich riechen. Bunt ist nur die Beschilderung der Makler, die offenbar hoffen, dass in der Mitte von armen Leuten und verkommenen Häusern noch ein paar Cent abzuzocken sind. Ich könnte fotografieren, aber es erscheint mir als Armuts-Voyeurismus. Außerdem ist das Knips-Handy unter drei Schichten Regenkleidung, von der jede der drei längst versagt hat. Roubaix, I feel you. Andere Leute fahren im Sommer an die Côte d‘Azur. Im trockenen Auto. Ich wollte das so. Ein Beweisbild am Radstadion (selbstverständlich hermetisch abgeschlossen) mach ich trotzdem. Dann kehrt nach Belgien.
Andererseits: Wenn es stimmt, dass man auf dem Rad die Welt kennen lernt, gehört auch die Hölle des Nordens dazu. Die höllisch ehrliche Selbstsicht ist mir immer noch lieber als jeder verzweifelte Versuch eines werbende Kollegen (oder wenn’s blöd läuft: von mir selbst) die Verhältnisse schön zu texten. Und ganz ehrlich: Neulich in Bellagio am Comer See, inmitten des internationalen Must-See-Tourismus der Privilegierten und anders Kostümierten war’s befremdlicher als hier im Norden. Apropos, ein weiterer Rad-Klassiker, die Lombardei-Rundfahrt endet am nächsten Wochenende in Como. Auch Textilhochburg, aber keine ehemalige. Von der Kohle, die der Makler für das Haus in Roubaix bekommt, kann er sich in Como nicht mal ne Hose kaufen. Die echten Helden werden in Roubaix gemacht. Nicht nur, aber auch im Radsport. Tatsächlich ist neben der Ronde ein Roubaix-Sieg das höchste der Gefühle. Letztes Jahr im Herbst hat Sonny Colbrelli gewonnen. Ein Italiener, geboren am Gardasee. Seine verrückte Freude, als er sich auf dem Rasen von Roubaix wälzte, taugt als Beweis. Der Norden eben seinen speziellen Reiz.
Erkenntnis des Tour: Die Portion Sonnencreme, Lichtschutzfaktor fuffzich, lass ich das nächste Mal zu Hause.