11 Jun Rakete
Kaffeefahrt, Etappe 10, Tione – Breno, 55 km , 1.750 Höhenmeter.
Immer schön aufs Herzchen und die Befindlichkeiten aufpassen in unserer Stuttgarter Seniorensportgruppe. Der Michl guckt beim Radlen ständig auf die Pulsuhr. Schaut, dass er in der passenden Zone belastet. So kommt er jeden Berg hoch. Sehr professionell. Kurz vor der heutigen Passhöhe am Goletto Di Cadino (gleich über dem bekannteren Passo Di Crocedomini) hat der Hai vom Bopser für den Film nochmal angezogen, nachgerade turbobescheunigt, ging in den roten Bereich und schwups, … stand er und musste pumpen. Immer schön in der eigenen Zone bleiben. Nie übertrieben. Man darf ja nicht vergessen, dass du Radsportler immer checken musst, ob der Körper mitmacht. Grad die Pumpe. Nehmen wir nur den aktuellen Europameister Sonny Colbrelli. Der hat letztes Jahr die legendäre Schlechtwetter-Ausgabe von Paris-Roubaix gewonnen. Episches aller epischen Rennen. Ohne Übertreibung. Die Mutter aller Klassiker. Davon werden Tourenfahrer wie wir noch in fünfzig Jahren schwärmen. Colbrelli absolut unsterblich. Was ein Gemetzel. Und er der große Triumphator. Eine der größten Siege aller Zeiten. Ohne Scheiss. Aber dieses Frühjahr: Colbrelli bricht im Ziel einer Etappe der Catalunya zusammen. Inzwischen hat er einen Defibrillator. Es kann auch die Besten erwischen. Trotz ständiger Beobachtung. Grande Colbrelli.
Also grad in unserem Alter: Nichts übertrieben. Ruhetag wie gestern natürlich super. Wenn ich mal von meinen eigenen Beinen erzählen darf: Von der Kraft her nicht ganz wie Bradley Wiggins. Eher wie Mary Poppins, nur haariger. Aber anständig den langen Pass hoch, der dieses Jahr auch im Giro-Programm enthalten war. Giro zuvor immer praktisch, weil frisch asphaltiert. Und was zu lesen auf der Straße. Wiggins hat mal erzählt, dass er den Goletto Di Cadino auch gefahren ist. Muss der Giro 2003 gewesen sein. Aber der spätere Tour-Sieger Wiggins war Frischling und formschwach dazu. Darum ließ er sich aus dem Peloton ins Gruppetto zurückfallen, und hoffte noch in der vorgeschriebenen Zeit anzukommen. Im Gruppetto treffen sich alle Fahrer, die nur ankommen wollen. Wiggins war total fertig, ließ sich zurück und weiter zurückfallen. Plötzlich war er am Besenwagen. Er hatte völlig übersehen, dass er zuvor schon im Gruppetto war. Nicht zur Strafe nur zu Übung musste er die verbliebenden 150 Kilometer alleine gegen die Zeit fahren. Ein einsamer Kampf hinter dem Gruppetto. Exakt den Berg, der Wiggins damals hingerichtet hat, sind wir heute hoch. Im bewährten Wurzel-aus-Wiggins-Tempo. Beide in guter Form. Michl sogar in Bestform, weil schon am hellen Morgen meine Gangschaltung professionell wieder eingestellt. Gut, wenn du mit einem Vollprofi unterwegs bist. Grande Michl.
Die Seniorensportgruppe fesch Richtung Passhöhe. Unsere Second-Hand-Körper heute erste Sahne. Oben im Flachstück vor der Goletta brachte ich nochmal Druck auf die Pedale. Dabei übersehe ich jedesmal die letzte steile Rampe. Aber auch die ging gut aus den Waden. Dann flach den Berg lang und da vorne ist die Passhöhe. Da klopft man sich gerne selbst anerkennend auf die Schulter. Well done. Doch bevor ich die Hand auf die Schulter senkte, zischte ein Pfeil an mir vorbei. Nicht, dass ich jemand kommen gehört hätte. Rakete ohne Motor. Tauchte aus dem Nichts auf. Übrigens im Teamtrikot von des Profiteams Bahrain-Victorious. Ich dachte an Michl: Jeder, der schneller ist als wir, muss ja mindestens … also Olympiasieger mindestens.
Das Schöne am Goletto di Cadore ist, dass der Trubel schräg unten am anderen Pass stattfindet. So stand ich ganz allein am Passübergang, als die Rakete überraschenderweise wieder um die Ecke bog auf dem Rückweg, von der anderen Seite. Sagen wir so: Wenn einer so viel schneller ist als ich, ist es mindestens der Bruder des aktuellen Europameisters. Grande Tomas Colbrelli.
Das Wichtigste zuerst: Seinem Bruder geht es gut. Sonny Colbrelli trainiert wieder moderat. Alles soweit auf gutem Wege. Tomas ist einige Jahre jünger, hat kürzlich ein großes Amateurrennen gewonnen und ist auf bestem Wege sein Talent auf die Straße zu bringen. Wir von der Stuttgarter Seniorensportgruppe haben einen Blick dafür: Auch Tomas wird ein richtig Großer. Sehen wir klar vor uns. Kein Zweifel. Klarer Fall, wir sind Fans und werden die Karriere im Blick behalten. Grande Tomas Colbrelli!
Erkenntnis des Tages: Wenn Du verschwitzt durch eine Kuhherde fährst, ändern manche Fliegen die Richtung. Im Sautter-Tempo kreisen nach ein paar hundert Metern summa summarum noch fünf Fliegen um die Panoramabrille. Im Colbrelli-Tempo keine Fliege den Hauch einer Chance.