
09 Juni Oase
SCHWATZIERFAHRT, Etappe 12, Oropa – Gattinara, 68 km, 1360 Höhenmeter
Uhren, Buchbinden, Bierbrauen – Mönche haben praktische Dinge erfunden. Die Klimaanlage gehört nicht dazu. Hinter dicken Klostermauern bleibt‘s von Natur aus wunderbar frisch, zumal elfhundert Meter überm Meer. Es soll einen Sportskameraden geben, der in Radthermowäsche geschlafen hat. Prächtig auch die Weinsammlung, die im Restaurant der Oropa-Anlage präsentiert wird. Vermutlich steckt ein göttlicher Plan hinter all der Pracht. Und ganz vielleicht gehören auch die Radrennen dazu, der hierzulande gerne an heiligen Orten enden. Zweifellos produzieren sie tolle Fernseh-Bilder, die in alle Welt verteilt werden. Eigentlich unbezahlbar, wenn du den Tourismus ankurbeln willst. Fallen wir gerne drauf rein. Schließlich profitiert nicht nur der Giro-Mythos von den heiligen Zielankünften wie Oropa, San Luca oder Madonna di Ghisallo. Auch andersrum wird ein Schuh daraus. Pilgertourismus ist ein Faktor, egal ob per pedes oder sportlichem Bio-Bici.
Nach wohltemperiertem Schlaf geht’s für uns Pilgertouristen gleich mal 400 Höhenmeter bergan. Auf gesperrtem Sträßchen. Träumchen, meine Damen und Herren, und wenn du dem Körper den Ruheplus ausgetrieben hast, um so mehr. Auch Adrenalin hilft. Allerdings frisches Alpträumchen von vorgestern: Bei unangeleinten Hunden, die in meine Richtung hecheln ist mir der Humor vergangen. Ab sofort belle ich zuerst – und zwar in Richtung der Trotteln, die die Leine als Deko in der Hand umhertragen. Die winseln dann„Vieni qua“, statt das Viech anständig zu erziehen. Der Hund kann ja nix dafür. Allerdings Vorteil: Adrenalin am Morgen bringt Extrapuls, der sich mit dem Bio-Bici gleich in Höhenmeter umwandeln lässt. Und sofort könnest du wieder die Welt umarmen vor lauter Glück. Zumal sich das schmale Sträßchen nach der Passhöhe wieder nach unten windet und uns direkt ans nächste Santuario führt. Da ist doch ein göttlicher Plan am Start, oder?
Als wir im Santuario San Giovanni d’Andorno auf den Hof rollen, schließen die beiden Damen gerade das Café auf. Timing. Der Espresso schmeckt trotzdem als wäre es der hundertste Caffè in Folge. Honigkuchen wird angeboten, was wir nicht ablehnen können. Michl charmiert mal wieder auf Basis weniger Parole, wie immer extrem erfolgreich. Die Welt ist schön. Ein vollsportlicher 82jähriger radelt heran. Zum Mittagessen wird er wieder in Biella erwartet. Dafür sind E-Bikes gemacht. Beim Bezahlen lernen wir, warum sich der Calvinismus kaum in Italien verbreitete. Zwei kleine Brösel Rührkuchen und zwei Caffé, bitte 14,50 Euro. Diese Katholiken brauchen in Sachen Arbeitsmoral und Wertschätzung von Erzeugnissen keinen Religionsphilosophen, der es besser weiß. Zugegeben, man spendet ja viel zu selten. Heute schon. Es möge dem Santuario nützen. Gern geschehen.
Auf der anderen Seite des Tales biegen wir in die Panoramica ein. Die Straße läuft wunderschön über einen Höhenzug der komplett der Fondazione Zegna gehört. Ermenegildo Zegna stammt von hier. Zegna Stoffen und feine Anziehsachen. Modeimperium. Zegna begann in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts in den Bergen oberhalb seines Heimatdorfes Land zu kaufen. Für den Naturschutz. Die Oasi Zegna dehnt sich inzwischen über 100 Quadratkilometer aus. In Worten: Hundert. Also Länge mal Breite, gell. Es ist ein Naturschutzgebiet in privater Hand. Zegna selbst hat das Land über die Jahrzehnte von Kleinbauern, Waldbesitzern und Institutionen käuflich erworben. Die Fondazione passt drauf auf. Tatsächlich ist der Landkauf auf heutiger Sicht eine der sichersten Methoden des Naturschutzes, vorausgesetzt, das Land gehört einer Stiftung – und keiner Einzelperson. Der staatliche Naturschutz hat in manchen Ländern das Problem, dass neue Regierungen, auf welchen Ebenen auch immer, plötzlich andere Interessen verfolgen. Und plötzlich werden in Schutzgebieten Eingriffe erlaubt oder Ecken abgezwackt, die jahrelange Arbeit mit wenigen Unterschriften kaputt machen. Da muss man schon sagen: Dieser Zenga war ein Visionär. Zwei Stunden sind wir auf seiner Panoramica unterwegs. Hoch auf 1500 Meter und wieder runter. Man sagt, man könnte im Süden bis zum Appenin sehen. Leider nicht heute. Auf der Diesigkeitsskala von 10 (diesig) bis 0 (klar) meldet meine Inneres Diesigkeitsbarometer den Wert 20. Die beiden Modellsegelflieger auf der Passhöhe verlieren ihre eleganten Gleiter schon nach wenigen Sekunden aus den Augen.
Andererseits sieht man der Region unterhalb der Oase schon an, dass dort wo die Natur nicht geschützt ist, einige Probleme rumstehen. Die Gegend ist reich geworden durch Textil und Maschinenbau. Vermutlich wird sie gerade wieder arm damit. Manche Fabriken produzieren noch, andere verfallen zu feinsten Industrieruinen. Aber was kümmern uns andere Leute Probleme, wir haben selber eins: tierisch Appetit – und das kurz bevor Italien zur Mittagszeit alle Läden runter lasst. Da muss man schon zugeben: Die feine schnuckelige Osteria hätten wir ohne das digitale Hosentaschen-Weltwissen nie gefunden. Und der Scheffe ein Rad-Experte serviert Spaghetti Alio Olio, die es nirgends besser. Schwöre.
Erkenntnis des Tages: In einer hundsgewöhnlichen italienischen Kleinstadt wie zum Beispiel… sagen wir… Gattinara… fühl ich mich tausendmal wohler als in Bellagio oder anderen hippen Badeflecken, in denen sich die Influencer mit ihren Hochformat-Augen gegenseitig über den Haufen crossposten. Das Gefühl hab ich nur in Italien. Wenn man es übersetzt, wäre es, als würde ich zum Beispiel…. sagen wir… Bebra… reizvoller finden als Heidelberg. Naja, warum auch nicht.