Mythos - Bernd Sautter
20376
post-template-default,single,single-post,postid-20376,single-format-standard,ajax_fade,page_not_loaded,,footer_responsive_adv,qode-theme-ver-9.2,wpb-js-composer js-comp-ver-7.9,vc_responsive

Mythos

Mythos

SCHWATZIERFAHRT, Etappe 9, Bourg Saint Maurice – Morgex, 66 km, ca 1.750 Höhenmeter

Der große Mythos der Tour besteht aus tausend Sub-Mythen., die sich über mehr als ein Jahrhundert verteilen. Die selbstgeschmeidete Gabel von Eugene Christophe gehört dazu, jüngst die Duelle von Pogacar und Vingnegaard. Wie bereits beschrieben, wurden die besten Legenden von eifrigen Journalisten protokolliert. Alle taten, was sie konnten, um möglichst detailliert die Rennereignisse nachzuerzählen. Allerdings ist es ein schmaler Grat zwischen guter Nach-Erzählung und leichter Übertreibung. Außerdem liegt es in der Natur der Sache, dass die Protokollanten nicht überall dabei sein konnten. Du weißt ja nie wo was passiert, das für die Ewigkeit taugt. Manchmal musst du dich auf Augenzeugen verlassen, die dabei waren. Zum Beispiel bei der Tour des Jahres 1950. Die gewann komplett überraschend der Schweizer Ferdi Kübler. Gino Bartali galt als Favorit. Aber nach einem Zwischenfall mit Zuschauern gab der große Italiener entnervt auf. Louison Bobet und Jean Robic waren die Favoriten der Franzosen. Aber gegen Kübler, den Kämpfer war nichts zu machen. Und der Mythos? Der stieg in einem Straßengraben auf, irgendwo zwischen Perpignan und Nîmes. Und zwar am hinteren Ende des Klassements. Es ist die Geschichte des Algeriers, der im Straßengraben zusammenbrach und danach besoffen in die falsche Richtung fuhr. Sogar der große Blickensdörfer hat die Version von den Franzosen übernommen, leider kaum geprüft. Eine der großen Geschichten der Tour. Jahrzehnte hat sie sich gehalten, diese mythische Erzählung. Unter anderem weil der Hauptdarsteller Abdel-Kader Zaaf lange in Algerien verschwunden war. Man konnte ihn nicht fragen. Warum auch? Die Geschichte war zu gut. Gestimmt hat sie nur in Teilen.

Erstmal muss betont werden: Zaaf war als Afrikaner zwar Exot. Damals jedenfalls. Aber er kam nicht auf der Brotsuppe dahergeradelt. Der Fahrer des algerischen Teams war ein anerkannter Profi, fit und voll konkurrenzfähig. Natürlich kein Tour-Favorit. Aber ein Fahrer mit Zeug zum Etappensieg. Einer der flach unglaublich Tempo treten konnte. Zaaf riss auf der 13. Etappe mit seinem Team-Kollegen Molinès aus. Molinès brachte den Vorsprung sogar ins Ziel. Es war der erste afrikanische Etappensieg der Tourhistorie. Der zweite Fakt, der dem halbwahren Mythos vom besoffenen Algerier Vorschub leistete: Nach der Tour blieb Zaaf noch einige Jahre in Europa. Er profitierte von der Geschichte, wurde zu vielen kleinen Rennen eingeladen. Ob es stimmte, was zu lesen war, war im herzlich egal. Er profitiert von seiner Berühmtheit, lies sich sogar für eine Likör-Werbung ablichten. Doch irgendwann kehrte er nach Algerien zurück, geriet mitten in den Bürgerkrieg, und war aus europäischer Sicht lange Zeit verschollen.

Richtig an der Geschichte ist, dass Zaaf 20 Kilometer vor dem Ziel bewusstlos im Straßengraben lag. Hitzschlag gilt als plausible Erklärung. 1982 griff das Velo-Magazin die Geschichte wieder auf, weil Zaaf zu einer Behandlung plötzlich wieder in Frankreich auftauchte. Daraufhin bröckelte die gängige Version, die dem Algerier Trunkenheit unterstellte – und irgendwie auch Dummheit an der Flasche. Der Mythos vom besoffenen Algerier wird im Magazin wie folgt zerlegt: „Nach seinem dritten Zusammenbruch musste Zaaf aus dem Graben gezogen und von den versammelten Zuschauern versorgt werden. Wieder zu sich gekommen, stieg er wieder auf sein Rad und fuhr in die entgegengesetzte Richtung. „Oh! Nicht weit, nur ein paar Meter“, erinnerte sich Zaaf. „Das hielt die Leute nicht davon ab, zu behaupten, ich sei betrunken. Klar, ich roch nach Alkohol, aber das lag daran, dass sie mir eine Flasche Fusel ins Gesicht gespritzt hatten.“

Das erzählt Zaaf rund 30 Jahre später, genau im Jahr 1892. Er kehrte in diesem Jahr nach Frankreich zurück, weil er fürchten muss aufgrund einer unbehandelten Diabetes blind zu werden. Am Bahnhof Montparnasse wird er von einem Freund aus Profi-Zeiten erkannt. Der Freund sammelt für eine Operation, die verläuft erfolgreich. 1986 schließlich stirbt Zaaf in seiner Heimat.

Persönlich darf ich zugeben: Ich mag die echte Geschichte des großen Abdel-Kader Zaaf. Sie mag eine Petitesse sein. Aber sie zeigt, dass Mythen oft durch kleine Ausschmückungen entstehen. Obwohl im Jahr 1950 gewiss eine Portion Geringschätzung gegenüber Algeriern mitspielte, hat die Erzählung keine wirklichen Opfer. Alle profitieren, die Tour, die Zeitung und auch Abdel-Kader Zaaf. Ein Lehrstück, wenn man so will. Als hätte Zaaf, dem die Religion den Alkohol verbietet, mit seiner ersten Flasche Wein intus damals noch eine Kurbeldrehung hinbekommen. Egal in welche Richtung. Aber irgendwer hat es halt geschrieben und alle haben es abgeschrieben. Ein harmloser Fall einer leichten Ausschmückung der Wirklichkeit.

Höchste Zeit, an unserem eigenen Mythos weiter zu kurbeln. Heute geht’s rüber nach Italien. Beginnen wir mit der Wahrheit. Tatsächlich verletzte ich mich fast bei der ersten Bewegung. Was man landläufig als Schlaf aus den Augen reiben bezeichnet, waren bei mir kleine Schotterpartikel, die fast Schürfwunden hinterlassen hätten. Keine guten Vorzeichen für den ersten Berg, der uns zum höchsten Punkt unserer Reise führt. Wären wir bei der Tour könnte man dort das Souvenir Henri Desgranges gewinnen. Sind wir aber nicht. Wir sind froh überhaupt oben anzukommen. Und damit beginnt die leicht übertriebene Ausschmückung der Geschichte des heutigen Tages.

Gegen jeder Erwartung spüre ich bereits in den ersten Serpentinen Diamanten in den Beinen. Also Mischung aus Oberwasser und Überzwerch. Der Aufstieg liegt in der Sonne, und meine Stimmung auch. Heut kurbelt sich’s von alleine. Ich trete einen Rhythmus, den ich gar nicht von mir kenne. Die Meilensteine am Straßenrand bestätigen, es geht 5 Prozent hoch. Ich kurble als wäre es eben. Weil der Tag lang wird, drossele ich den Takt und bin immer noch zu schnell. Euphorie macht sich breit. Und etwas mulmiges Gefühl, weil Oberwasser extrem gefährlich. Als ich pausiere, erlebe ich das zweite Rad-Wunder. Michl klebt hinter einer Trainingsgruppe aus Vater und Sohn, die mit einem Mördertempo dem

Himmel entgegen streben, oder wenigstens dem kleinen St. Bernard. Er lässt sich locker flockig den Berg hochziehen, atmet dabei nur durch die Nase. Ein Flow namens Michl. Es sind mythische Momente. Michl kurbelt schwerelos. Fit wie ein junges Nachwuchstalent kurz vor dem Wechsel in den Profikader. Damit Ende der leichten Ausschmückung.

Zurück zu den Tatsachen: Der Zug Papa-Sohn-Luz rast so zackig ab mir vorbei, dass ich keine Chance habe das Hinterrad zu erreichen. Offenbar beginnen meine Diamanten zu bröckeln. Das Ende dieses Mini-Mythos einer Etappe gegen jede Physik ahnt jeder, der mal meinte, einen plötzlichen Fitness-Anfall ausleben zu müssen.

Nach dem kleinen St. Bernard sieht unsere Etappe einen zweiten Pass vor, eher so ein kurzes Ding, dachte ich. Nun ja. Der Colle San Carlo entpuppt sich als steile 500-Höhenmeter-Rampe mit zweistelligen Prozentzahlen, die nicht nachlassen. Dieses Drecksding. Das geschnetzelte Wildschwein vom Mittag macht die Sache nicht besser. Tempo schon unten rein defensiv bis destruktiv. Tendenz: Krise bis Verzweiflung. Unsere Senoirengruppe absolviert den ersten italienischen Colle in absolut altersgerechter Geschwindigkeit. Nichts ist mehr locker, Gesichtszüge schon gar nicht. Wir treten im Quadrat – mit einer Haltung, gekrümmt wie eine Revival-Band auf Abschiedstournee. Rockende Körper zwar, aber kein Roll mehr drin. Kaum Rhythmus beim null Karat. Soweit zu unserem Mythos. Haltbarkeit cirka eine Stunde. Wenn die Rentnergruppe meint, ihr Alter kurz zu vergessen, geht das meistens in die Hose.

Erkenntnis des Tages: Keine. Alles richtig gemacht. Wenn die geile Welle kommt, musst du sie reiten.