16 Jun Rollerberg
Man soll fallen, wie man Feste feiert. In unserem Fall: in ein Bad aus Plüsch, Sekt und Herzlichkeit. Hier kommt der finale Eintrag ins Diario.
Kaffeefahrt, Etappe 13, San Pellegrino Terme – Osteno, 67 km , 1.350 Höhenmeter.
Ey, da radelst du zwei Wochen die Pässe rauf und runter, hoffst, dass hinter nächsten Rampe oder der nächsten Serpentine endlich die Passhöhe rausschaut, und wirst so oft aufs Schönste auf die Folterbank gespannt, weil statt Passhöhe nächste Rampe oder nächster endloser Blick auf unendliche Steigung und Passhöhe immer dort, wo du noch nicht bist, und weitertreten bis zur nächsten Biegung und dort dasselbe wieder von vorne…
Und ganz am Ende kommt ein Alpenpass wie gemalt und du fragst dich, was die Planer sich bei den anderen Pässen gedacht haben. Es geht ja auch anders. Endlich: Der letzte aller Pässe der Kaffeefahrt. Ein Rollerberg! Ey, warum nicht vorher?
Als Rollerberg bezeichnet man die Steigungen, die auch ein Sprinter oder ein Zeitfahrer halbwegs anständig raufkommt. Prozentwerte unter 6, besser noch unter 4, so geht das doch auch. Wie am Culmine San Pietro. Runde 1200 Meter Meereshöhe, jeder einzelne Höhenmeter ein feuchtes Träumchen für einen Rouleur. Oben ein besserer Feldweg. Statt Roar von Harley hörst du Zwitschern von Goldamseln. Fast Regenwaldfeeling. Unter den schattigen Bäumen geht es sanft bergan. Es rollt. Sogar bei mir. Nicht dieses kraftvolle Treten, brachial aus Verzweiflung. Mit der dauernden Befürchtung, dass der nächste Tritt dein letzter sein könnte. Weil Luft und Kraft am Ende. Eher dieses endlose runde Rollen, das du hinbekommst, wenn du nicht nur vorne reintrittst, sondern eher kurbelst, also hinten auch die Pedale aktiv hochziehst. Jetzt bin ich weder Zeitfahrer noch Sprinter, aber eben am wenigsten Bergspezialist. Daher warte ich seit zwei Wochen auf einen solchen Rollerberg. Egal, ob’s 30 Kilometer endlos rauf geht. Mir wurscht. Fast falschflach geht’s voran. Nachgerade mühelos. Wie zur Belohnung schalte ich aufs große Kettenblatt. Am Berg!
Ein würdiger Abschlusstag. Mehr als das. Vor der Caffèbar auf halber Höhe gönnt sich eine Gruppe italienischer Styleciclistas eine Pause. Wir setzen uns dazu und werden in die Runde aufgenommen. Drei absolute Modell-Athletinnen und -Athleten. Figur: Bergspezialisten. Siehst du sofort. Sie sind von der ALME Radsportgruppe und empfangen die Stuttgarter Seniorenabordnung herzlich. Auf dem Pass treffen wir weiter ALME Ciclistas. Wieder Ciao und Herz und Selfie. Feine Feldwegabfahrt, dann im abfallenden Tal Rückenwind, großartiges Risotto. Michl zündet den Risotto-Turbo. Die Fähre am Comer See verpassen wir knapp, was uns ein halbstündiges Studium des internationalen Influencer-Tourismus einbringt. Ich lerne: Am Comer See nur mit Melange aus Bikini und Abendgarderobe. Shoppingqueen wird keine. Irgendwie schräger Vortrag allenthalben. Die Garderobe wird häufig getragen mit Anteilen von Verzweiflung. Die Lage ist komplex. Und ich vielleicht zu alt für das polyglotte Jetset. Mit anderen Radlern sind wir fein raus, auch wenn in meinem Fall die mittägliche Pastaportion auf Gürtelhöhe wahrnehmbar bleibt.
Die kleine Rampe vor unserem Ziel in Osteno am Luganer See nehmen wir im Genussmodus. Rund drei Kilometer vor Osteno tauchen von hinten zwei Sportskameraden auf, die uns in ihrem Windschatten ins Ziel begleiten, das natürlich nur bei Mimmo an der Bar sein kann. Barmann Mimmo wuchs als Nachbar von Vicenzo Nibali in Messina auf. Die Verbindung zum internationalen Spitzensport könnte direkter kaum sein. Was folgt, treibt uns die Freudentränen in die Augen. Auf der Straße lesen wir statt Nibali und Colbrelli unsere Namen. Die deutsche Blase Osteno fährt auf. Volle Lotte. Der Fotograf Giorgio Gobbi hält alles fest. Großartig: Vom örtlichen Ruderklub wurden Pokale ausgeliehen, überklebt und gefüllt. Getränke, Kuchen, Hurra. Die Kirche steht zwar nicht mehr im Dorf, kein Ball wurde flach gehalten, aber das ist grad egal. Ab zum Feiern. An einem der schönsten Plätze, die du dir vorstellen kannst. Bei Mimmo in Osteno vor der Dorfbar. Unter Freunden.
Erkenntnis des Tages: Großes Kettenblatt am Berg? Ich hab wohl ein Rad ab. Glatte Selbstüberschätzung. Passiert mir nie wieder.
Und jetzt Konfettiregen: Vielen Dank an den großen Sportskameraden und Kameramann Michl für grandiose zwei Wochen erfolgreiche Selbstüberschätzung. Vielen Dank an Kirsten und Rita fürs Fahrenlassen. Vielen Dank an die Osteno International Crew. Vielen Dank an Österreich, Slowenien und Italien für die Durchreise. Vielen Dank ans Schicksal, dass wir auch in diesen Zeiten reisen dürfen. Vielen Dank an unsere Kunden, für die Pause, die sie uns gönnen. Vielen Dank an alle, die mit Likes, Kommentaren und konstruktiven Beiträgen motivierend eingegriffen haben. Verneigung und Konfettiregen für Euch alle. Danke fürs Mitradeln. Wir legen die Beine hoch. Salute! A dopo.