Schiebung - Texter Sautter
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Schiebung

Spritztour (Etappe 7, Finale) Osteno – Madonna do Ghisallo – Muro di Sormano – Osteno

Die Helden des Radsports sind zumeist bescheidene Leute. Ein paar Ausreißer gibts immer, aber ansonsten feine Kerle. Starallüren sind selten. Wer richtig gut war, findet sich am Ende seines Schaffens bei der Madonna di Ghisallo wieder. Entweder in der kleinen Kapelle oder im Museum daneben. Als Radpilger statteten wir heute dem mythischen Ort einen Besuch ab. Huldvoll gebückt im kleinsten Gang. Ghisallo muss man erklären. Die Wallfahrtskirche Madonna del Ghisallo steht seit 1623 hoch über dem Comer See. Der Berg hinauf ist nicht extrem lang, aber steil. Beim klassischen Eintagesrennen Giro di Lombardia steht der Aufstieg seit jeher auf dem Streckenplan. Wo die Kapelle steht, wird die Bergwertung abgenommen. Der Pfarrer war wohl auch ein Radsportfan. Auf seine Initiative kam im Jahr 1948 der Papst zur kleinen Kapelle, er erklärte die Madonna di Ghisallo feierlich zur Schutzheiligen aller Radfahrer. Ab diesem Zeitpunkt begannen die Helden der Sportart damit, der Madonna Devotionalien zu hinterlassen, meistens Räder und Trikots. Der winzige Innenrau ist voll bis unters Dach. Trotz Samstagmorgentrubel ein Ort der Würde. Helm ab zum Gebet. Und dann nebenan ins 2006 errichtete Radsportmusem.

Wir setzten am Morgen mit der Fähre über dem Comer See und erklommen den klassischen Anstieg. Das lohnt sich schwäbisch schon deshalb, weil du als Radler im Dress einen Euro weniger Eintritt ins Museum bezahlst. Im Anstieg zieht die Modenschau italienischer Ciclisti an uns vorbei. Locker kurbelten die Stangenspargel in den aktuellen Dressen der Saison. Pret-a-Monter. Milano ist nicht weit. Die meisten haben einen Fahrtwind, als hätten sie in purem Energydeo geduscht. Du siehst von weitem, wer hier deutsch ist und eine Transalp in den Waden hocken hat. Der Platz vor der Kapelle ein halber Radlerzirkus. Alle frisch rasierte Waden bis auf einen…

Ein Club Radveteranen stellt sich vor dem Denkmal zum Gruppenbild auf. Ich fotografiere natürlich mit. Als ich in der Kapelle der gesegneten Flamme der Madonna huldige und die Devotionalien inspiziere, werde ich zweimal auf italienisch angesprochen. Immerhin. Obwohl aus meiner Morgendusche normales Wasser perlte. Wieder stellen sich die Radveteranen auf. Es scheint so, als würde der Pfarrer eine Andacht für Sie vorbereiten. Da wir eine lange Tagestour vor uns haben, verlassen wir den Heiligen Ort nach dem Museumsbesuch. Auf den Bildern erkennen wir später, dass die „Furono Famosi“ (die berühmt gewesenen) nicht irgendwelche Veteranen sind. Auf dem Bild erkennt man Gianni Motta. Kein Geringerer als den Sieger des Giro d’Italia von 1966. Motta siegte unter anderem vor dem großen Jacques Anquetil und vor Felice Gimondi. Er trug des legendäre Molteni-Trikot lange bevor es Merckx trug. 1966 wurde ich geboren. Die Madonna präsentiert mir den Girosieger aus meinem Geburtsjahr. Als Italiener glaubst du in einem solchen Moment an einem solchen Ort nicht an Zufall. Jetzt hätt ich’s nur noch bemerken müssen.

Um die Radtour vollständig zu machen, pilgern wir an die Muro du Sormano in der Nachbarschaft. Eine Schiebung mit Ansage. Die Mauer wurde nur drei Jahre im Rahmen der Lombardia befahren. Es ist eine Straße, die senkrecht den Berg hinauf geht. Auf zwei Kilometer werden rund 300 Höhenmeter überwunden. Durchschnittliche Steigung 15 Prozent. Maximal Steigung 27 Prozent. Jeder gewonnene Höhenmeter ist auf der Straße gekennzeichnet. Ich wage keinen einzigen Pedaltritt, meine Waden sind bereits im Eimer. Die Muro war nur 1960 bis 1962 bei der Lombardia auf dem Programm. Unter Protesten der Radprofis übrigens. Dann wurde die Auffahrt gestrichen. Niemand will Radprofis schieben sehen. Wir dürfen das. Wir nehmen die Muro a Piedi. Zu Fuß. In der Dreiviertelstunde, die wir benötigen, schaffen es zwei Verrückte, die Muro mit kleinster Übersetzung zu erklimmen. Wir verstehen die Muro als Freilichtmuseum. Die Namen derer, die sie damals bezwungen haben, hat ein spanisches Designbüro auf die Straße gepinselt. Wir ehren die Helden als Fußvolk. Danach fahren wir auf den finalen Kilometern der Lombardeirundfahrt in Richtung Como. Um den Schmerz richtig nachempfinden zu können, gehts danach noch 800 Höhenmeter zurück zum Lago du Lugano. Laktatparty. Wir fahren an der Villa von George Clooney vorbei. In hohem Tempo. Man muss Prioritäten setzen.

Erkenntnis der Tour: Der Radsport lehrt Bescheidenheit. Die Berge sind dabei wichtige Lektionen. Die Helden des Sports fallen kaum auf. Wir Pilger tun gut daran, uns diese Bescheidenheit abzuschauen.

Ein herzliches Dankeschön an alle, die uns bei der Radpilgerei mit Applaus und Zuspruch unterstützt haben. Wir hatten es nötig. Das Extra-Hossa geht selbstverständlich an den großartigen Michl Luz. Nach der Spritztour dürfen wir ihn mit Fug und Recht ein Eichhörnchen der Berge nennen.

In der Kapelle Madonna di Ghisallo
Muro di Sormano
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Radhelden
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