26 Mai Madonna
Passkontrolle: Tappa otto: Osteno – Madonna di Ghisallo – Osteno:
70 km
Die Kapelle Santuario di Madonna di Ghisallo ist das Heiligtum des italienischen Radsports – und unsere finale Passkontrolle. Der klassische Anstieg führt von Postkartenstädtchen Bellagio am Comer See hoch auf den Bergrücken. Kein langer Anstieg, ungefähr 400 Höhenmeter, aber ein giftiger. Schon 1919 tauchte der Anstieg im Radsport auf. Coppi, Magni, Bartali und all die Helden sind hoch geschnauft und wurden im Radsportmuseum neben der Kappelle verewigt. Endlich ist die legendäre Passage wieder im Giro enthalten. Und wir Kinder der Sonne haben die Ehre, dabei zu sein. Radsport und Religion hautnah beieinander.
Drei Stunden vor Marschtabelle klettern wir zur Madonna, in dem wir uns in die lycra-gekleidete Perlenkette einreihen, die die maximal 14%ige Steigung hochschnürt. Die federgewichtigen Styleposer unter den Hobbyradler ziehen leichtfüßig an uns vorbei. Trotzdem hilft uns der eigene Schmerz die Leistung der Profis zu beurteilen, weil wir die Steigung selbst in den Waden haben. In den Serpentinen warten schon die Leute. Ich steige vom Rad um den verdienten Beifallsturm für Michl zu organisieren, stelle mich aber einigermaßen doof an. Statt vor Ovationen fährt Michl vor lauter verdutzten Gesichtern vorbei. Die Stille war direkt schreiend, die wir entfachten. Die Aussicht über den Comer See ist atemberaubend. Die Pause, sie zu genießen, erspart uns den direkten Vergleich. Den Profis reichen 20 Minuten. Wir… sind ganz gefangen von der Atmosphäre. Ganz oben können wir sogar bei der Bergwertung durchfahren. Jetzt mal ganz ohne Pathos, aber wer so tickt wie wir, für den hat sich die Reise von Degerloch schon wegen dieses einen Moments gelohnt. Unbezahlbar! Wir stellen uns eine Kurve unterhalb der Kappelle auf eine Mauer und warten auf die Helden. Mimmo, Michls Wirt in der Dorfbar in Osteno, kennt Vincenzo Nibali persönlich. Beide sind gebürtige Sizilianer und beide hier im Norden hängen geblieben. Forza Nibali! Tatsächlich ist unser Held in der Gruppe der Klassementsfahrer leicht auszumachen. Mission completed! Der Schmerz in den Gesichtern der Profis ist bei allen abzulesen, die sich nicht ins Gruppetto haben fallen lassen. Tröstlich und überaus eindrucksvoll. Nibali erreicht am Ende den dritten Platz, das erfahren von Mimmo in der Bar di Lago, als wir zurück in Osteno ankommen. Wir gönnen uns eine Prosetscho auf dem Rad und ein finales Filmchen.
Erkenntnis des Tages: Radsport mag nicht der spektakulärste Sport sein, aber sicherlich einer der qualvollsten. Und das nicht nur wegen der scheußlichen Trikots, die unter Radsportlern so verbreitet sind. Vor jedem einzelnen Profi ziehe ich meinen Hut und sage Champs-Élysées. Oder wie man korrekt auf Italienisch sagt: Château!