Wie gemalt - Texter Sautter
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Wie gemalt

Wie gemalt

Etappe 5, Tourette de France, Salines les Bains – Lamoura, 97 km, 2.200 Höhenmeter

Hundert Kilometer quer durch den französischen Jura und nichts zu erzählen? Ja, das kann vorkommen. Hier ist halt wenig bis nichts. Auf den Landstraßen kommt vielleicht alle 10 Minuten ein Auto. Meistens ein Milchlaster. Und wie der die Kurven schneidet. Der weiß, dass außer ihm grad keine Menschenseele hier ist. Total schöne Gegend, dort wo der Jura noch nicht so hoch reicht. Also vermutlich. Denn viel gesehen haben wir nicht. Blickweite vielleicht fünfzig Meter. Auch mal schön. Nicht mal Dörfer. Das erste erreichten wir nach ungefähr 30 Kilometer. Vorher tauchte vielleicht ein einzelner Hof aus dem Nebel auf, sonst nichts. Nicht mal Wanderwege sind angelegt. Also auch keine Wandersleute, die die Ruhe stören. Einfach friedliches Nichts. Fürs Fotografieren allerdings super. Du kannst hinknipsen, wo du willst, und es sieht meistens aus wie ein Bild von Casper David Friedrich. Das hat natürlich den strampelnden Künstler auf den Plan gerufen. Endlich mal Urlaubsfotos ohne Sonnenschein. Das Netz ist ja voll von Sonnenschein. Dauernd scheint überall die Sonne. Im Jura kannst du knipsen, wie Casper David Friedrich gemalt hat. Also so, wie es influenten Netz kaum zu sehen ist. Macht nur keiner, weil ja – siehe oben – kaum einer hier.

Außer uns zwei Ruhestörern. Obwohl man das Jura da beruhigen kann. Selbst wir haben nicht gestört. Die Ketten frisch geölt, die Räder geschnurrt wie die Katzen. Das neue, wild blinkende Stadionflutlicht, das der Michl seit heut morgen auf seinem Lenker hat, hat kaum einer gesehen. Nicht mal die Kühe auf der Weide haben sich irritieren lassen. Der Michl natürlich bei jeder Herde am Straßenrand gerufen „Guckad amol alle her!“ Und was soll ich sagen. Null Reaktion. Nicht beim fünfzigsten Mal Herguckbefehl. Das Jura lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Durch nichts und niemand. Schon gar nicht durch die Jahreszeiten. Wenn dem Jura nach Mitte Februar ist, macht er eben Mitte Februar. Egal, was im Kalender steht. Der Michl hat glatt überlegt, was er seiner Frau zu Ostern schenken soll.

Andererseits Problem. Regulierung unseres Fetthaushalts. Weil kein Dorf bedeutet ja auch kein Restaurant. Aber andererseits. Erstes Dorf, gleich erstes (und einziges) Restaurant. Mit super Chef du Cuisine. Dem haben die komischen Holländer auf ihren Fahrrädern gleich gut gefallen. Bis der Michl den verklinkert hat, dass wir trotz komischer Sprache, den Rädern, den wolkenblassen Gesichtern und dem Oranje-Windshot vom Michl gar keine Holländer sind, das hat auch ne Viertelstunde gedauert. In der nächsten Viertelstunde hat der dann sein Buffet bestückt. Mann-o-Mann! Glückliches Jura. Nichts geboten, nirgends, außer gehaltvolles Essen. Der Chef uns das ganze Buffet erklärt. Nach seiner Gestik zu urteilen, muss ein Fleischgericht von einem kastrierten Viech gewesen sein. Hab mich aber nicht getraut weiter nachzuhaken. Landwirtschaftliche Gestik nicht meine Kernkompetenz.

Ach ja, Radgefahren sind wir auch. Diese Mittelgebirgsetappen sind ja hinterhältig. Dauert rauf und runter. Nicht zu knapp. Echte Wadenkiller. Runter wird die gestresste Muskulatur a kalt und wenn du dann b für einen leichten Gegenhang reintreten musst: Implosion. Und wenn wir abends beim Essen dann vom Tourenradfahren schwärmen, es anderen Reisenden erklären, sing ich das Loblied aufs besonders intensive Landschaftserlebnis, wie man alles spürt und verinnerlicht beim Radfahren. Die Geige halt. So intensiv alles. Radeln in schönsten Farben. Philosoph auf dem Rad. Hör mich dabei selber gerne. Gefallsüchtig wie man dann ist, wenn man von seinem eigenen Hobby schwärmt. Kein Wort von der drecks Muskelimplosion geht mir über die Lippen. Sonst denken die doch, ich wäre doof.

Erkenntnis des Tages: Zum Schluss war ich so implodiert, dass ich sogar die Nacktschnecken verschont habe, die sich quer zur Straße rübergeschleimt haben. Nicht, weil ich sie nicht hassen würde. Aber a) so friedlich das Jura, da will ich auch milde sein, b) die Jura-Schnecke frisst nicht meinen Gemüsegarten und c) ich war so langsam, ich hab die Viechern nicht mehr erwischt.