
02 Sep. Vučko
Neues von den Balkanplatten, Etappe 11, Konjic – Sarajevo, 68 km, 950 Höhenmeter.
Den Enkel vom Kaiser Franz-Joseph-dem-Ersten kennst du vielleicht. Jetzt nicht persönlich. Aber schon mal gehört: Thronfolger Franz Ferdinand. Den erwähne ich hier nur kurz, weil der ging im Wesentlichen nur in die Geschichte ein, weil er sich über den Haufen hat schießen lassen. Sprich: Kurzauftritt in der Weltgeschichte. Das war hier, gleich links von unserem Hotel auf dieser unscheinbaren Lateinerbrücke. Dabei war der Franz Ferdinand selbst ein Waffenfreak. Im Jahr 1908 soll er einen Rekord aufgestellt haben. Der soll wohl 2763 Lachmöwen an einem Tag über den Haufen geballert haben. Der Typ hatte wohl einen ziemlichen Schuss. Ob der Gavrilo Princip, so heißt der serbische Freiheitskämpfer, der den Franz Ferdinand umgebracht hat, ein Rächer der Möwen war, ist nicht bekannt. Um so verbreiteter: Die Redewendung „der Funke am Pulverfass“. Weil nach den Schüssen auf der Brücke da drüben, 20 Meter vom Zimmer weg, in dem ich tippe, ging der erste Weltkrieg los. Die Welt damals ein Pulverfass, warum, darüber wurden dicke Wälzer geschrieben. Das lass ich hier weg, sonst franst der Tagebucheintrag vollends aus.
Sarajevo jetzt. Unbedingt mit langem O hinten singen, gell. Vučko heißt das Wölfchen, das als Maskottchen für die Winterspiele gezeichnet wurde. Damals Hochphase der Maskottchen. Kann sich längst keiner mehr an all Viecher erinnern der vielen Olympiaden. Sarajevo schon – und 1972 München vielleicht noch. Wenn du älter bist, oder dich im Design auskennst: Der Münchner Dackel Waldi stammte vom großen deutschen Gestalter Otl Aicher. Vučko war das Werk des Slowenen José Trobec, damals als es noch Jugoslawien gab. Ehrlicherweise muss man sagen: Vučko auch nur Kurzauftritt. Viel mehr als sein Sarajevo-oo—oo-oo hat er auch nicht gekonnt. Aber so ist das halt. Du musst kein Multitalent sein, um berühmt zu werden. Der hat sich nicht sonderlich bewegt. Ziemlich unsportliches Viech eigentlich. Überleg mal wie sich Torwill-Dean angestrengt haben, damit ihr Eistanz so lässig aussah. Der legendäre Bolero. Oder Jens Weißflog und Matti Nykänen, die Olympiasieger auf den Schanzen. So ein Skisprung ist ja auch eher als Kurzauftritt angelegt. Doch da bewegst du dich wenigstens. Im Gegensatz zu Vučko. Der stand nur bequem rum. So unsportlich kommst du nur zu Olympia als Maskottchen. Stehst hin, jodelst kurz Sarajevo, und kommst dauernd im Fernsehen. Und vierzig Jahre später erinnern sich die Leute kaum noch an die Sportler, aber das Maskottchen haben sie drauf. So ist das halt.
Jetzt weil ich‘s vom Nykänen hatte, sprich Überleitung zum den Senoirenolympioniken unserer Tage. Du musst wissen, ich bin ja weitgehend alkoholfrei. Vermutlich das Alter. Nicht wie der Nykänen, der hat mein Alter nicht mehr erlebt. Da hab ich gedacht, Vorteil gegenüber meinen Sportskameraden, weil die können noch was am Glas. Aber hallo. Und was ist passiert? Jetzt bestellen die abends auch Sparkling Water – und stellen fest, dass es ohne Sprit viel besser rollt. Sowas. Da war mein erhoffter Vorteil wieder futsch. Ich hoff mal, das ändert sich noch auf den nächsten Etappen. Heut jedenfalls wieder kein Vorteil für mich. Dass ich mal vorne im Wind das Tempo mache: auch eher im Bereich Kurzauftritt.
Rein radlerisch brauchst du für die heutige Etappe heutigen Etapoe nicht viele Absätze. Praktisch dreigeteilt: Kacke – Träumchen – Kacke. Zuerst mal satte Höhenmeter über den Ivan Sedlo, den Ivanssattel. Wieder durch super Landschaft, das schon, aber auf zweispuriger Hauptverkehrsstraße. Da kriegst du schon was an die Ohren, dauernd Vrmmmm, vrmmm, vrmmmm. Nur die letzten hundert Höhenmeter waren Feldweg. Sagen wir so: Bis Zehne am Morgen hat uns niemand beneiden müssen heute. Als wir oben waren: Träumchen. Da haben uns ein paar Goldsucher die richtige Abfahrt gezeigt, und dann ging’s mit Rückenwind und leichtem Gefälle Richtung Sarajevo. Der Fritz hat glatt einen Vierzigerschnitt getreten, auch als es wieder eben war. Da ist sogar der Sandsack mitgezogen worden, also ich. Goldsucher stimmt natürlich nicht ganz. Die beiden Typen hatten halt NATO-grüne Dresse an sowie schicke Detektoren und Spaten im Anschlag. Sie sammeln Reste aus dem zweiten Weltkrieg, haben sie gesagt. Sammler halt. Und wenn sie Minen dedektieren, würde sie die Polizei holen. Ich lass das mal so stehen. Bißle suspekt kommt mir’s schon vor. Aber ich muss auch nicht alles naseweis wissen. Die letzten 15 Kilometer rein nach Sarajevo, da hast du uns wieder nicht beneiden müssen. Erst dann wieder als wir im hoteleigenen Hamam vor uns hin schwitzten. Schon klasse, so ein Schmelztiegel der Kulturen. Im Hamam-Tiegel kannst du mächtig schwitzen und hast keine Schmerzen. Nachteil: Du gewinnst halt keine Höhenmeter dabei.
Erkenntnis des Tages: Ich hab mich schon von der Ferne gefragt, warum gerade in Bosnien-Herzegowina so viele verschiedene Ethnien und Religionen nebeneinander gelebt haben und es an vielen Stellen immer noch tun, allen grausamen Verbrechen zum Trotz. Hier ist meine Theorie: Das hat mit der Topografie zu tun. Weil viele steile Täler, hohe Pässe und unzugängliches Gelände. Da kannst du ruhig siedeln, lebst gar nicht weit von anderen Stämmen weg, jetzt Luftlinie, und kriegst nicht viel mit von denen im anderen Tal. Und wenn du aus Versehrn jemanden triffst, freust du dich so sehr, dass es dir’s egal ist, welchen Gott die andere Person anbetet. So könnte das früher gewesen sein hier. Es könnte einen täglich ankotzen, dass es immer wieder schief gegangen ist. Und weißt du was: In allen drei Kriegen können die Leute in Bosnien nicht wirklich was dafür. Der Mist kam eigentlich immer von außen.