Vogël - Bernd Sautter
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Vogël

Vogël

Neues von den Balkanplatten, Etappe 19, Berat – Permët, 98 km, 1900 Höhenmeter

Wahrscheinlich fängt der einzigartige Teil von Albanien erst dort an, wo die Straße aufhört. Das geschah heute bei Kilometer 72. Aber lasst mich bitte vorne anfangen – und das ist in diesem Fall vor fast 100 Jahren. Am 11. November 1927 wurde in Veneto der Gran Premio della Vittoria ausgetragen. Auch Tullio Campagnolo fuhr mit. Beim Anstieg auf den Passo Croce Aune hatte er sich mit drei weiteren Fahrern abgesetzt. Das Wetter wurde scheußlicher und scheußlicher. Ach ja: Gänge am Fahrrad gab’s damals nicht. Oder genau zwei, wenn du es so sehen willst. Am Hinterrad war auf der rechten und der linken Seite ein Zahnkranz dran. Also konntest du das Rad drehen. Flügelmutter lösen, Hinterrad ausbauen, umdrehen, Kette über den anderen Zahnkranz legen, einbauen, Flügelmutter wieder anziehen. Mit den vereisten Fingern von Campagnolo ging das kaum noch. Er musste die Anderen ziehen lassen. Jetzt war Campagnolo nicht nur Radfahrer sondern auch Tüftler. Sein Vater hatte eine Eisenwarenhandlung. Ein paar Jahre später meldete Campagnolo das Patent für einen Schnellspanner an. Später entwickelte Campagnolo erste Kettenschaltung, die sich im Alltag durchgesetzt hat. Sie funktionierte stabiler als das, was die Gebrüder Nieddo schon zuvor entwickelten. Deren Schaltprinzip war zwar gut gedacht, aber arg wackelig. Bißle so wie der Wankelmotor, wenn du verstehst, was ich meine. Gute Idee, tut aber immer wieder nicht.

Jetzt warum erzähl ich das. Weil der Fritz heute in die Vergangenheit zurückkehrt ist. Der hat zwar ein Shimamo Schaltwerk dran, aber das war komplett verbogen. Mit dem Ergebnis, dass er nur vom Lenker aus nur zwei Gänge schalten konnte, halt über den vorderen Umwerfer. Als dieser Mist offensichtlich wurde, war eigentlich klar: Umdrehen und 25 Kilometer zurück auf Los. In der Hoffnung, dass ein albanischer Campagnolo den Mist wieder hinbiegen kann. Du musst nämlich wissen, heute stand ein Gebirgspass auf dem Programm, weit weg von geteert. Im wesentlichen ein steiler steiniger Pfad, 500 Höhenmeter nur hoch, loses Gestein drauf, dann weitere 7 Kilometer meistens runter, manchmal steil runter. Gravel Hilfsbegriff. Eigentlich unfahrbar ohne Mountainbike. Die Einheimischen zeigen uns einen Vogël, als sie hören, dass wir mit Rennrädern in den Pass fahren. Aber wo ein Wille und ein optimistischer Routenplaner ist, da wird auch so ein Weg als befahrbar befunden. Jetzt war ja klar, so ne Etappe geht never mit zwei Gängen. Präzise erzählt, ist das dem Floff klar und mir auch. Sonnenklar. Nun, was soll ich lang drumrum schwätzen. „Geht schon“, meinte der Dritte im Bunde. Ich schlug ja neulich vor, diesem Hardcore-Typen ein Extragewicht hinten drauf zu schnallen. Wie beim Golf: Prinzip Handicap. Damit er auch mal ins Schwitzen kommt. Aber auf sowas fieses wie Gänge wegnehmen wär ich nicht gekommen. Wie der Fritz dann diese Steinmauern hochgetreten ist: Du machst dir keinen Begriff.

Etwa so wenig wie über diese Landschaft. Deutsche Sprache ja reich an Adjektiven, aber dafür: kein Adjektiv. Wir fahren zuerst das Tal der Osum Richtung Quelle. Eine feine Straße führt uns. Die Einzige weit und breit. Hört sich eben an, ist es nicht. Denn auch die Osum ist dankenswerterweise in ihrem natürlichen Flussbett. Nur ein paar Stellen sind begradigt. Neben dem Fluss sind anfangs fruchtbare Felder. Aber manchmal kommt halt arg viel Wasser, dann ist das ganze Tal landunter. Das erkennst du an den Dörfern. Die liegen samt und sonders über dem Tal, so auch die einzige Straße. Fushe Peshtan, Vertop, Mbrakull. Rauf und runter geht die wilde Fahrt. Jaupas, Krakukë, Buzuq. Wer hat noch nicht, wer will nochmal. Tomorr i Vogël dürfen wir links liegen lassen. Bei Shentod bin ich fast schon scheintod. In Çorovodë machen wir Mittag. Pasta übrigens al denter als in mancher deutscher Küche. Respekt. Dann geht‘s erst richtig hoch. Auf den paar Wegweisern hat ein Abschleppdienst Bebber mit seiner Telefonnummer draufgeklebt. Keine ganz schlechte Idee.

Wenn du auf die Karte schaust, sieht das übrigens anders aus. Da stehen überall auf den Bergrücken diese Namen als wären es kleine Dörfer. Zum Beispiel Sevran i Madh, oder Sevran i Vogël, was man mit Großsevran und Kleinsevran übersetzen könnte. Aber in Wahrheit: Großsevran sind zwei Häuser, Kleinsevran auch. Zu erreichen über einen noch steinigeren Pfad als den, den wir hochtreten und an manchen Stellen schieben. Von wegen da kommste nur mit den Mountainbike hoch: Wir werden von einem berittenen Mulis überholt. Das geht besser als jeder Allrader, das Muli.

Was du da oben siehst, rund 900 Meter über Normalnull, ist nicht mehr normal. Majestätische Perspektiven über unberührte Landschaft. Da denkst du fast, du wärst ein Vogël, und zwar kein kleiner. Da hat der Fritz seine fehlenden Gänge vergessen, ich meine brennenden Waden und der Floff fast seinen Respekt vor dem Downhill. Aber nur fast. Respekt brauchst du nämlich, der schützt dich, damit du nicht übermütig wirst, wenn dich die dicken Brocken auf den Weg hin und her werfen. Kurz bevor wir auf die Straße kommen, noch den ersten Balkanplatten der Reise. War ja klar, es erwischt den, der auf diesen Namen gekommen ist. Keine Ursache.

Erkenntnis des Tages: Albanien. Träumchen in Stein gemeißelt. Einsame Gegenden wie ich sie selten ermessen habe. Eindrücke, die bleiben. Heut stell ich ein paar Fotos mehr in Blog. Selbst auf die Gefahr hin, dass sie dem Erlebnis kaum gerecht werden. Und wenn ich jetzt noch damit aufhören würde, beim Runterrattern mit den rechten kleinen Zeh so sinnlos zu verkrampfen, hätt ich nicht mal eine Blase nach dieser Wahnsinnsetappe. Als ob man mit den kleinen Zeh bremsen könnte. Mannmann.