Serpentinenschaf - Texter Sautter
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Serpentinenschaf

Etappe 9, Tourette de France, Saint Pierre d‘Albigny – St.Jean de Maurienne, 60 km, ca 1.000 Höhenmeter

Für Bernd, das Brot kann ich nichts. Also die sprechende Kastenbrot-Puppe aus dem Kids-Kanal. Es wäre überraschend, wenn bei den TV-Machern jemand gewusst hätte, dass das zügige Leerfressen des Brotkorbs bei Tisch eine der besten Bernd-Disziplinen ist. Also große Augen bei mir, als in Montvernier lauter Leute mit frischen Brot um die Ecke bogen. Neugierde geweckt – und Volltreffer. Wie im Schwäbischen. Die Dorfgemeinde betreibt gemeinschaftlich einen stattlichen Holzofen. Wir bekommen eine spontane Backhaus-Führung. Bald ist Brotfest in Montvernier. Bekannt ist das Bergdorf auf einer Anhöhe des Maurienne allerdings aus anderem Grund. Weil es ihnen vor fast hundert Jahren zu doof war, ständig über die Hügel der Nachbardörfer zu gurken, um ins Tal zu kommen. Problem: Auf dem direkten Weg nach unten fällt der Fels 200 Meter senkrecht. Sieht als Wasserfall schön aus. Wenn du in Montvernier wohnst, jedoch eher unpraktisch. Ob man eine Straße links daneben in die Felsen schlagen könnte? Auf die Idee kam man Ende der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts. Die erste Firma, die in den Auftrag bekam, kapitulierte. Erst dem zweiten Bautrupp gelang es 1932, die Lacets (Schnürsenkel) de Montvernier fertig zu stellen. 18 enge Serpentinen, fast 300 Meter Höhenunterschied. 2015 führte die Tour das erste Mal hoch. Seither weitere zwei Mal. Bei allen drei Austragungen gewannen Franzosen die Bergwertung in Montvernier. Wenn die Tour kommt, sind auf den Lacets keine Zuschauer zugelassen, so eng ist das. Da würden garantiert ein paar über Bord gehen. Bei der Backhaus-Führung werden wir natürlich auf einen Deutschen angesprochen, der damals bei den Ausreißern war. Das anschließende Fachgespräch erspar ich Euch. Nur soviel: Damit kann man mich erfolgreich ablenken. Ich vergaß komplett, die wichtigste Frage zu stellen.

Es geht um die Wahl zur Serpentinenkönigin. So viele wunderschöne Kurven. Doch die Königin ist klar: Serpentine Nummer 12. Gewählt von mir und dem Serpentinenschaf, das da wohnt. Präziser: ein Bock. Allein auf steiler Flur. Außerhalb jeder Herde. Kein Mensch weit und breit. An der Kante der Serpentine liegt Stroh. Da muss jemand nachgeholfen haben. Deutlich erkennbarer Lieblingsplatz. Das Schaf ist dort öfter, ohne Zweifel. Das wirft Fragen auf. Wie heißt das Schaf? Warum hat es sich dort eingenistet? Ist es Bestandteil des Tests, das jedes Schaf durchlaufen muss, wenn es zur Bergziege umgewandelt werden mag? Eine direkte Befragung des Schafes hab ich versucht. Trotz meinen Qualitäten als Schafflüsterer: Keine Infos aus erstem Huf. Meine Versuche der Kontaktaufnahme endeten stets damit, dass der Bock im Kreis rum lief. Die Straße hoch oder runter wollte er nicht. Er drehte sich ständig um seinen Lieblingsplatz. Vor lauter Brot hab ich oben im Dorf vergessen, die wichtige Frage zu stellen, wie sich das Schaf dorthin verirrte. Nicht mal das allwissende Netz weiß was. Vielleicht ist auch der Cliffhanger, den dieses Diario braucht. Wer mal in der Gegend ist: Löst das Rätsel vom Serpentinenschaf. Bitte. Gern unter diesem Tagebuch-Eintrag. Vielleicht nur ein bockiges Schaf. Eine schöne Geschichte wär mir allerdings lieber. Aber was schert das Schaf, was ich gerne hätte?

Die Tour natürlich allgegenwärtig im Maurienne und im Hauptort St. Jean de Maurienne. Tief eingeschnittenes Tal. Ringsum viele der klassischen Tour-Entscheider. Glandon, Croix-de-fer, Galibier, Madelaine, ganz hinten der Isoard. Überall Installationen von großen Rädern. So Rad-Kunstwerke. Nicht sicher, ob nur ein Schweißer im ersten Lehrjahr geübt hat. Eher so von der Art, als hätte man es dem Kunstpädagogen der lokalen Schule nicht verwehren können, auch ein Kunstwerk in den öffentlichen Raum zu stellen. Ganz Im Ernst: Ich erkundigte mich mal nach einem konfusen Kreisverkehrskunstwerk in Leonberg. Antwort sinngemäß von offizieller Stelle: „Wir haben vier Kreisverkehre und vier Schulen mit langjährigen, verdienten Kunsterziehern. Da hat halt der vierte auch ein Kreisverkehr machen dürfen.“ In dem Zug fällt mir die wichtige Info ein, praktisch Nachtrag zu Etappe 4: Salines-Les-Baines ist die Partnerstadt von Horb am Neckar. Steht am Ortseingang von Salines-les-Baines. Seit einer anderen Tour weiß ich, dass Cividale del Friuli mit Plochingen befreundet ist. Hier St.Jean de Maurienne jumiliert mit Bad Wildungen. Weiß der Bock, warum sich sowas bei mir einprägt. Kann man sich eigentlich absichtlich etwas nicht merken? Offenbar zu viele leere Hirnzellen bei mir vorhanden. Was mich fast ärgert. Jetzt bin ich so weit gefahren, denk ich dann, und les ich am Ortseingang erst wieder Plochingen. Da bist du glücklich in Cividale, weit gereist, weltoffen, und froh, mal was anderes zu sehen, was passiert: Dir wird Plochingen ins Hirn gesetzt. Plochingen, wie so ein lästiger Ohrwurm für die Augen. Du radelst durch Friaul und denkst… Plochingen. Mensch! Wobei sich der Kreisverkehr wieder schließt. Denn wie fast jeder weiß, steht in Plochingen ein künstliches Hüftgelenk im Kreisverkehr. So ist das halt in Plochingen. Und jetzt denk ich sogar in St. Jean daran, statt an Bad Wildungen.

Erkenntnis des Tages: Selbst wenn die Welt untergeht, werden nachfolgende Zivilisationen die Duschgel-Tütchen vom Hotel Europa in St. Jean de Maurienne verschlossen vorfinden. Solche Senftütchen-Duschgels, kennt ihr sicher. Mit so einem Schlitz an der Seite, praktisch höhnischer Schlitz. Du fummelst dir mit nassen Händen einen Krampf hin und das Drecksding bleibt halt zu. Der Michl wohl ein Messer dabei gehabt, aber dann ist halt das halbe Hotelzimmer nass vom Durchlaufen und Messersuchen. Ich mit den Zähnen, also noch scheissere Methode. Weil dann ziehst du und hast ein Plastikeck abgebissen und offen ist immer noch nichts. Nächster Versuch, weiter innen und dann aber Achtung, sonst kriegst du ne Ladung Oma-Duschgel zur Vorspeise. Glaubt mir, ich schmeck das Zeugs noch, während ich diese letzte Zeile schreibe.