
01 Juni Second Hand
SCHWATZIERFAHRT, Etappe 4, Saignelegier – Malbussion, 110 km, 1700 Höhenmeter
Meine Beine kannst du vielleicht noch im Second-Hand-Shop verkaufen. Heut eher 1B Ware unterhalb des Beckens. Gebrauchte Haxen haben jedoch einen Vorteil: Mehr Zeit für den Jurassic Park. Heute komplett auf der französischen Seite des Jura unterwegs. Sehr schön, wirklich. Weniger Mensch pro Quadratmeter, dafür mehr Wiese. Auch toll: Weit und breit kein Baumarkt. Was dazu führt, dass die Vorgärten weniger deutsch-inszeniert sind. Also keine Glaskugeln, keine Flamingos und keine rostigen Figürchen. Keine Obi-Quengelware für die Zielgruppe Ü50, nirgends. Hübsch angelegt schon, der großzügige Garten. Aber halt Garten – und keine Outdoor-Erweiterung für die Deko, weil Wohnzimmer quillt über mit Staubfängern. Nee, Juristinnen und Juristen mögen Gärten, die zur Landschaft passt. Vielleicht hilft auch, dass auf Jurahöhen kaum anderes wächst als Strauch und Wiese. Darum im kommerziellen Bereich der Landschaftsgestaltung null Getreidefelder, nur Milchwirtschaft. Da hat der Michl die Kühe gleich beneidet, obwohl rein figürlich keine Gemeinsamkeit. So viel Auslauf. Weiden, die sich über ganze Höhenzüge ausdehnen. Und lecker Kräuterwiesen, da hast du selbst beim Wiederkäuen immer noch ein 3-Sterne-Aroma. Man schätzt, dass mehr als 80 Prozent diese Exquisit-Milch zu Käse verarbeitet werden. Drum wir gleich im Restaurant Fromage eingecheckt. Lecker. Michl natürlich wegen Kuh-Verehrung einen warmen Ziegenkäse bestellt. Weil heilige Kuh, praktisch unantastbar. Hat den Vorteil, dass er nicht in die Versuchung kommt, den Hochgenuss per Wiederkauen zu verlängern.
Nochmal zurück zu meinem gebrauchten Beinen. Bemerkenswert find ich diesen Effekt, dass auch das Hirn nachlässt, wenns untenrum zäher kurbelt. Nicht arg. Nur bißchen. Als hätte einer die Gedanke gaaanz leicht auf Zeitlupe gestellt. Erst am Nachmittag stellte sich wieder Fitness ein und prompt nochmal der Gedanke an Ulle.
Jetzt nicht wegen Doping, das ist längst verhandelt. Aber man darf ja wertneutral feststellen, dass Ulle nach seiner Karriere auch ein paar Themen hatte (Probleme gibts keine). Erst Frust, dann Dauerfrust. Als mit dem Leben nach dem Radsport nix Richtiges anzufangen weiß, schlittert er in Depression. Alkohol, Heroin sowie Alkohol und Heroin helfen nicht. Seine Frau trennt sich. Ich persönlich finde ja: Man muss auch sehen, dass der Ulle nicht der Einzige ist. Gerade bei Radsportlern gibt und gab es viele, die ohne Radsport nicht zurecht kamen. Kurze Liste der Todesfälle ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Pantani starb mit 34 in einem Hotelzimmer, José Maria Jiménez mit 32 in einer psychiatrischen Klinik. Thierry Claveyrolat erschoss sich mit 40, Frank Vandenbroucke starb mit 34 nach mehreren Suizidversuchen in Senegal. Mit Doping Spätfolgen hat das kaum was zu tun. Eher schon damit, dass die der Radsport dich völlig absorbiert.
Ex-Profi Alain Peiper im Interview mit einem englischen Radsport-Journalisten die Sache wie folgt geschildert: „Plötzlich steht man vor dem Spiegel, schaut sich an und muss mit der Person klarkommen, die man in der neuen Welt ist.“ Nicht ausgeschlossen, dass Ullrich den Satz unterschreiben würde. Nach Jahrzehnten in den sich Ulle eine zweifelhafte Vita zugelegt hat, darf man schon zugeben: Gut, dass der einstige Held nochmal die Kurve bekommen hat. Hoffentlich bleibt‘s so.
Erkenntnis des Tages: Was sich definitiv ändert, ist das Wetter – und zwar morgen. Vermutlich geht das Packen schneller, weil wir vieles bereits anhaben. Oder übertrieben die Wetter-Apps? Es bleibt spannend. Ich hatte heute ein deftiges Fondue. Stärkt die Abwehrkräfte, sagt man. Den Kühen ist‘s ja auch Wurscht, wenn es regnet.