Pinkelpause - Bernd Sautter
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Pinkelpause

Pinkelpause

SCHWATZIERFAHRT, Etappe 7, Le Grand Bornand – Beaufort, 55 km, ca. 1550 Höhenmeter

So kann‘s laufen, wenn du Glück hast. Noch vor der plat du jour erreichen wir das Etappenziel. Trocken. Col des Aravis und Col des Saisies werden noch vor dem Mittag weggefrühstückt. Die Wolken hängen tief, aber sie lassen nichts auf uns fallen, wenn man von winzigen 10 Minuten absieht. Passhöhe Aravis ganz vorzüglich: Urige Hütte mit lächelnden Service und kompetenten Expresso. Passhöhe Les Saisies fürchterlich: So wie du dir verlassene französische Skistationen vorstellst. Ne, trostloser noch. Paradebeispiel dafür, dass Tourismus längst eine Saison-Industrie geworden ist. Und wenn keine Saison ist, werden alle Bunker, die zum Essen, Schlafen oder Zeugskaufen hingestellt worden sind, komplett verriegelt. Wir sahen auf dem gesamten „Col de Industriegebiet“ nur drei Bauarbeiter. Nicht mal Durchgangsverkehr. Weiterfahren ein unermessliches Glück, zumal die Wolken mit fließend Wasser drohen. Also überantworten wir das Natur- und Strukturprobleme den Einheimischen und stürzen uns bester Laune ins freundliche Restaurant am Etappenziel, runde 700 Höhenmeter tiefer. Michl übrigens erneut mit entschlossenem Tritt, nur bei der Wahl des Pinkelpausen-Plätzchens bleibt er unentschlossen und zögerlich. Hier? Oder da? Oder vielleicht nach der nächsten Kehre? Ah, dort vorne? Oder doch nicht? Ein berechtigtes Zögern muss ich sagen, weil nach fast einer Woche eisernes Gesetz: Immer wenn Michl mal muss, rauscht ne impertinente Autokolonne vorbei. Zugegeben, im Rahmen dieses Diario wäre die Pinkel-Petitesse normalerweise keine Erwähnung wert, aber ich brauche eine Überleitung. Solange wir in Frankreich sind, will ich bitte die enge Verbindung von Radsport und Schreiben besprechen.

Schließlich hat Henri Desgranges 1903 die erste Tour veranstaltet, ein Zeitungsmann. Wenn man den Berichten glauben darf, stammte die Idee von seinem Assistenten. Und was hat der große Journalist Desgrange von seinen Kollegen gefordert, wie man bitteschön schreiben soll über die Tour? „Es muss die Schlafmützen und Fantasielosen hochreißen, wenn sie am Frühstückstisch sitzen.“ Desgranges wollte in seiner Zeitung nicht lesen, wie viele Zacken die Zahnkränze haben oder anderes technisches Zeugs. „Das große Publikum will wissen, ob er sich einen Reifen mit den Zähnen von der Felge gebissen hat.“ Desgranges wollte dramatische Qualen, einsame Helden und spektakuläres Dramen. Und weil ich die Überleitung nicht verlieren darf, zitiere ich die wichtigste Schreibregel von Desgranges: „Benützt Eure Augen und zeichnet mir Bilder! Ins menschliche Detail müsst ihr gehen und zwar soweit, dass ich erfahre, ob er zum Pinkeln seine rechte oder linke Hand genommen hat.“

Mit Liebe zum Radsport hat es also nichts zu tun, dass die Tour im Jahre 1903 erfunden wurde. Letztlich ging es darum, die Auflage der Zeitung „L‘Auto“ zu steigern, übrigens das Vorgängerblatt der „L‘Equipe“. Bei „L‘Auto“ schaute man neidisch auf die Konkurrenz, die das Rennen Bordeaux – Paris hatte, und man wusste, in den Tagen rund um Bordeaux – Paris verkaufte sich das Konkurrenzblatt bestens. Außerdem eignete sich ein Radrennen bestens für Heldengeschichten. Und weil die Tour durch ganz Frankreich führte, waren viele Leute nah am Geschehen. Sie mussten nur auf die richtige Straße stehen und warten, bis der Tross vorbei kommt. Besonders praktisch. An der Straße sieht niemand, wie das Rennen wirklich läuft. Wenn du ein Fußballspiel guckst, kannst du die gesamten 90 Minuten Plus erzählen. Beim Radrennen keine Chance. Man sieht die Fahrer ja nur kurz vorbeirauschen. Wenn du an der Straße stehst, weißt du ja nie, wer nachher gewinnt. Sogar wenn du im Ziel stehst, weißt du nicht, warum die Fahrer genau in der Reihenfolge abgeschlossen haben. Dafür muss du schon die Zeitung kaufen, zumindest damals. Ordentliches Marketing, so eine Tour. Klappt bis zum heutigen Tag, vielleicht mit dem kleinen Unterschied, dass die Zeitungen die Berichtshoheit an TV und Streaming abgeben mussten. Aber wirklich erst nach 100 Jahren. In Deutschland hat man übrigens 6-Tage-Rennen erfunden, um das Dilemma des Zuschauens zu lösen. Aber auch das stirbt einen langsamen Tod.

Zurück zum Schreiben: In Italien hat es ebenfalls funktioniert. Das rosa Trikot des Führenden ist nicht zufällig die Farbe, in der noch heute die Gazzetta dello Sport erscheint. Ihr kennt das leicht rosa gefärbte Papier sicherlich. Belgien? Dasselbe. In den drei großen Radsportnationen waren es Zeitungen, die Radrennen erfanden und groß raus brachten. Karel Van Weijendaele war Journalist bei der Zeitung „Sportweireld“. Van Weijendaele erfand die Ronde Van Vlaanderen, die Flandern-Rundfahrt. Erstmals ausgetragen 1913, nachdem ein Jahr zuvor Odiel Defraeye als erster Belgier die Tour de France gewann. Man kann es ja zugeben: Radrennen gehören nicht unbedingt zu den spannendsten Sport -Ereignissen. Alle paar Monate passiert mal was, was außerhalb der Rad-Community sehenswert ist. Aber wer gut schreibt, der kann auch langweilige Rennen spannend erzählen. Das geht, wenn man Hintergründe, Trainingsmethoden und allerlei sehr Persönliches über die Fahrerinnen und Fahrer zu berichten weiß. Und so erzählen kann, wie es Henri Desgranges gefallen würde.

Erkenntnis des Tages: Natürlich geht es auch um gute Bilder. Wer sollte es besser wissen als die beiden Olympia-Poser auf Schwatzierfahrt? Darum ein herzliches Dankeschön an den Radsport- und Fotoexperten, der uns gestern darauf hinwies, dass es viel schneller und sportlicher aussieht, wenn man aus dem Sattel geht. Das richtet sich vor allem an mich alten Sitzenbleiber. Ab sofort wuchte ich meinen Hintern aus dem Sattel, schalte runter, kurble schneller, wenn der Michl das Handy zückt. Aber ich fürchte, nachdem ich grad seine Pipi-Pausengestaltung ausgebreitet habe, hab ich keine Gnade am Bild mehr zu erwarten