Pffft - Bernd Sautter
20555
wp-singular,post-template-default,single,single-post,postid-20555,single-format-standard,wp-theme-themeforest-7315054-bridge-creative-multipurpose-wordpress-themebridge,ajax_fade,page_not_loaded,,footer_responsive_adv,qode-theme-ver-9.2,wpb-js-composer js-comp-ver-7.9,vc_responsive

Pffft

Pffft

Neues von den Balkanplatten, Etappe 15, Andrijevica – Shkodra, 132 km, 1850 Höhenmeter

Zum dritten Mal hintereinander von diesen imposanten Naturkulisse zu schwärmen, das kann ich dir kaum zumuten. Also vorne anfangen: im Hotel in Andrijevica. Dieses Riesengebäude am Hauptplatz hat ca. 100 Zimmer. Schätzungsweise zwei davon waren gebucht. Wir also nachgerade allein im großen Frühstücksaal, der einzige, den ich bisher sah mit offenem Kamin. Eingelassen in den Boden als Nische mit Sitzgruppe. Da kannst du dir richtig gut vorstellen, wie die Herren um Tito zu Jugoslawischen Zeiten ihren Slivo genossen. Nach dem Zerfall hat sich Andrijevica von den Einwohnern gezehntelt. Grad mal 998 Leute wohnen in dem, was mal eine Stadt war – und immer noch die amtliche Bezirkshauptstadt ist. Die Bergregion Montenegros entvölkert sich. Die große Hauptstadt Podgorica, ehemals Titograd, hält sich. Kotor an der Adria boomt. Dort sitzt das Geld, von dem du was abbekommen kannst, wenn du aus den Bergen abhaust. Hinter Kolašin in den Bergen entstehen Appartementkomplexe am Rande eines kleinen Skigebiets. Eine der wenigen Spuren von Aktivität in der Bergregion Montenegros. Und noch was gehört zum Gesamtbild des Landes. Aus gut unterrichteten Quellen habe ich erfahren, dass in Kotor die Drogen aus Südamerika im großen Stil anlanden und weiterverteilt werden. Mit der Montenegrinischen Mafia soll nicht zu spaßen sein, sagt man. Weiß auch die Regierung, aber die funktioniert halt wie der Balkan funktioniert. Wenn du genug Asche hast, ist alles bezahlbar.

Wir verlassen Montenegro wie wir gekommen sind: durch eine Hintertür. Am Grenzübergang ist kaum was los. Nur ein paar Touristen haben sich hierher verirrt. Aber die kennen sich aus, muss man ihnen lassen. Ich überspringe jetzt den bombastischen Teil der Etappe und hüpfe zum Ende. Shkodra! Durch Albanien-Kenner Hardy Grüne wusste ich bereits, dass es eine Fahrradstadt ist. Gemerkt hätte ich es auch ohne das Vorwissen. Schon auf den Einfallstraßen so viele Radlerinnen und Radler, dass wir besser unsere Reisegeschwindigkeit drosseln. Autofahrer nehmen Rücksicht. Auf den großen Straßen ist eine Fahrradspur eingerichtet, mit Plastikständerchen vom Autoverkehr getrennt. Nicht unfallsicher, zugegeben, aber wirkungsvoll gegen Radwegzuparker. Erste Fahrräder sollen hier schon am Ende des 19. Jahrhunderts gefahren sein. 1925 begann in Shkodra zudem die erste „Turi Çiklistik i Shkipërisë“, eine

Radrundfahrt über 1.300 Kilometer. Und dann, kam Enver Hoxta und von ihm angeführt das vielleicht blutrünstigste Regime, das sich jemals auf europäischem Boden etablierte. Autobesitz? Undenkbar, wenn du nicht ganz oben in der Hoxta-Partei warst. Drum ist Shkodra, bummseben wie die Stadt nunmal ist, fortan geradelt. Heute kann sie stolz auf diese Kultur sein. Die Stadt Shkodra unterstützt sie nach Kräften. Parken in der Innenstadt ist teuer. Noch viel mehr Radwege sollen angelegt werden. Zahlen: Stolze 29 % aller Wege werden mit dem Fahrrad zurückgelegt. Zum Vergleich: In Deutschland liegen Städte wie Karlsruhe oder Freiburg nur knapp darüber. Was unsere Reise betrifft, darf man sagen: Wir fühlen uns willkommen und bestens integriert. Bißle overdressed und overambitioniert, was Style und Maschine betrifft, das darf man zugeben.

Hat auch keiner behauptet, wir wären Alltagsradler. Der vortreffliche Floff hat vorhin das Wesen des Tourenradlers treffend zusammengefasst. Nämlich als reduziert auf die Grundfunktionen eines Babys: Essen, Rülpsen, A-A, Strampeln, Schlafen. So kann‘s passieren, dass wir für Shkodra eigentlich viel zu wenig Zeit haben, weil beschäftigt mit den Grundfunktionen. Praktisch Pffft, wie ich vom eigenen Körper live berichten kann. Also Luft raus für den Moment. War ja auch klar, nach drei Etappen, die eher vollmundig geraten sind. Andererseits: Die Berge Montenegros waren der Härtetest dieser Reise. Bißle wie die Alpenetappen bei der Tour de France. Nur dass ich mir die steile These nicht verkneifen kann: Das hier ist weitaus schöner. Soll ich dir noch von der Abfahrt vorschwärmen, runter durch die Cemi- Schlucht? 20 Kilometer runter, inmitten von Felsriesen, deren oberes Ende du kaum siehst? Schwöre: eine der schönsten Abfahrten meines Lebens. Wirklich.

Erkenntnis des Tages: Wo es runter geht, geht‘s auch wieder hoch. Grad wenn du von den Bergen kommst, also aus einigermaßen frischer Luft, geht’s in der Nachmittagssonne am steilen Qafa e Rrapshës an die Substanz. Also nicht an die vom Fritz, aber an meine. Drum macht mein Körper nur noch „Pffft“. Aber ich weiß: Das „Pffft“ hast du schnell vergessen. Was bleibt ist die Wilde-Maus-Abfahrt durch die Olivenhaine, mit Blick auf den Shkodrasee, und der dahinterliegenden Bergkette. Und drum schreib ich auch Tagebuch. Wie mir Fritz angesichts der phänomenalen Anfahrt auf Shkodra zurief: „Eigentlich zu viele tolle Eindrücke auf einmal“ Overdressed, overambitioniert und overloaded. Aber komplett im Glück.