07 Jun Nordpol
Nordpol
Bergerfahrung, Etappe 13, Bormio – Ponte in Valtellina, 102 km, 2.100 Höhenmeter
1988 Gavia. Es schüttet den ganzen Tag. Die Giro-Etappe nach Bormio wird wahrscheinlich nur deshalb nicht abgebrochen, weil zuvor schon eine wichtige Bergetappe dem Wetter zum Opfer fiel. Damals ist der Gavia ein besserer Feldweg. Asphalt Fehlanzeige. Bei Minus 4 Grad erleben die Fahrer die fürchterlichste Etappe der Giro-Geschichte, die Hölle auf Erden. Eis klebt an ihren Haaren. Es sind nur wenige, die nicht aufgeben. Der Führende der Etappe Johan van de Felde fährt kurzärmlig ohne Handschuhe und Regenjacke rauf. Oben wird er notdürftig mit Regenjacke ausgestattet und weiter geht’s . Dann erreichen Andrew Hampsten und Erik Breuking die Passhöhe in 2.654 Meter Meereshöhe. Die Beiden kamen unter Höllenqualen zuerst in Bormio an. Van de Felde hatte sich eine Dreiviertelstunde in einer Hütte versteckt. Zwischenzeitlich dachte man schon er wäre für immer verschollen. Favorit Jef Bernard hat großen Rückstand. Er sagt im Ziel, er wäre froh am Leben zu sein. Im Zielbereich schafft es kaum einer, ohne Hilfe vom Rad zu steigen. Die Meisten werden gestützt von Soigneuren und Mechanikern. Viele haben Tränen im Gesicht. Mindestens einer droht zu kollabieren. Die Etappe wird zur Legende. Aber in Wirklichkeit ist sie ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Den Gavia hatte ich vor Jahren schon mal vor der Nase, aber damals schneite es am Tag zuvor am Stilfser Joch, da war kein Gavia mehr drin. Heute gaaaanz anders. Heute lacht die Morgensonne. Sie fährt mit uns nach Santa Catarina das Tal hinauf. Dorthin wo der Pass zur feldwegbreiten Straße wird. Es ist der schönste Pass unserer Tour. Nicht zu steil, viele Serpentinen, wundervolle Aussichten. Unvergessliche Momente. Fein warm ist’s. Sogar die Beine machen mit. Ein perfekter Tag. Läuft! Bei 2000 Metern Höhe lässt die Vegetation nach. Die Murmeltiere feuern uns an, pfeifenderweise. Bei 2200 Meter lässt meine Puste nach. Später als gedacht, immerhin. Bei 2250 Meter lässt die Sonne nach, recht abrupt. Die Dreckswolke wirft gleich mit Graupel um sich. Ich denke an Hampsten, Breuking und van de Felde – und freue mich heimlich, dass ich an dieser Stelle des Tagebuches eine feine Verbindung zur Legendären Etappe geliefert bekomme. Bei 2400 Metern ist mir’s nur kalt und die Verbindung für Tagebuch ist mir wurscht. In der Gazzetta Dello Sport stand mal: Gavia, ein Abenteuer, eine Novelle – wie eine Reise zum Nordpol. In der Tat: Der See gleich bei Passhöhe ist weitgehend zugefroren. Wie gut, dass dahinter die Passhütte kommt. Ismirkalt. Drinnen glüht der Ofen. Die Hütte ein Radsportmuseum. Andy Hampsten und all die anderen an den Wänden. Es ist der Höhepunkt unserer Tour – in doppeltem Sinne.
Aber da war noch was: die Abfahrt. Zuerst drehen wir noch völlig begeistert Videos in Wolken. Aber ein paar Meter tiefer quillt das Wasser aus ebendiesen Wolken. Kaum zwei Kehren später ist Schluss mit lustig. Kalt geht. Nass auch. Aber kalt und nass dem Gavia runter ist Kacke. Ein Hauch von 1988, aber wirklich nur ein Hauch. Dort vorne kommt ein Tunnel. Damals soll ein australischer Fahrer in diesen Tunnel gewartet haben, und als es nicht wärmer wurde, ist er in den Teamwagen eingestiegen. Für kein Geld der Welt wäre der Profi weiter gefahren. Ich komm von oben in ein ähnliches Dingsda und weiß, dass es bei dem Wetter besser ist schnell ins Tal zu kommen. Vor dem Dingsda steht was von „Galerie ohne Beleuchtung“. Wenn‘s ne Galerie ist, brauchst du auch keine Beleuchtung, denke ich, lasse das Rad laufen und täusche mich gewaltig. Nach keinen 50 Metern wird die Galerie zum stockdunklen Tunnel. Also doch das Tunnel des Australiers. Anfängerfehler. Vollbremsung. Nur Anhalten wär jetzt noch blöder. Die dunkle Kurve navigiere ich mit Tuchfühlung zur Tunnelwand. Weiter unten, wo die Vegetation wieder einsetzt, stehen tatsächlich Motorradfahrer in ihren Lederklamotten und warten bis der Regen vorbei ist. Weicheier. Erst unten in Ponte Di Legno kommt die Sonne wieder raus. Und siehe da: Die Natur hat einen Föhn eingerichtet. Eine halbe Stunde weitere Gegenwind-Abfahrt später sitzen wir furztrocken in Edolo bei der verdienten Pasta. Euphorie macht sich breit. Was ein wundervoller Tag.
Erkenntnis des Tages: Der Aprica-Pass ist ein vergleichsweise häßliches Teil. Eine durchaus frequentierte Bundesstraße das Tal entlang, wenn man von Edolo kommt. Aprica selbst eine künstliche Skistation. Aber ein Rollerberg ist ein Rollerberg. Und ich liebe Rollerberge. Ganz flache Berge, bei denen du die Steigung kaum merkst. Perfekt so wie heute mit sanftem Schiebewind. Bei Läufern nennt man es Runners High. Gibts auch im Radsport. Aprica und der Pass. Ich liebe sie. Aber ich fotografiere nicht. Wenn die Beine gut sind, verbietet sich jede Kritik. In Wort und Bild.