
02 Juni Im Vorgarten des Olymp
SCHWATZIERFAHRT, Etappe 5, Malbussion – Exenevex, 73 km, ca. 700 Höhenmeter
Spontane Entscheidung: Die zwei letzten Jurapässe lassen wir weg. Es gibt ja auch einen Grund, warum die Wiesen dort so schön grün und artenreich sind. Es pisst halt andauernd. Dann eben auf der Hauptstraße nach Lausanne. Nicht obenrum über zwei Höhenzuge, da ist es nass, kalt und außer Wolken nix zu sehen. Sondern untenrum, und wenn‘s nass bleibt wie vorhergesagt, sickert das Wasser etwas temperierter durch die Nahtstellen. Bitte den kürzesten Weg zur Fähre, rüber über den Genfer See. Danke. Gravierender Nachteil der Planänderung: Heute können wir nicht mit gefahrenen Pässen steil gehen, wir flachwitzigen Velo-Veteranen. Heute müssen andere Mittel her. Und wie es der Zufall will, verpassen wir in Lausanne eine Abzweigung, gurken am Ufer entlang zum Fähranleger und radeln direkt durch den Vorgarten des IOC. Also Pflicht: Angeberbild mit Ringen. Was uns zur Erkenntnis verhilft, dass es die olympische Bewegung nicht gern sieht, wenn man durch ihren Vorgarten stapft. Wenn du das Foto groß ziehst, erkennst du den Terrorschützer im weißen Hemd. Der schützt auch die frische Bepflanzung des Schweizer Galabauers. War ja auch zu teuer, um sich die Kräuter von kindgebliebenen Seniorenradlern zertrampeln zu lassen. Übrigens: Als uns an Tag 1 ein ziemlich durchtrainierter Radler auf der Schwäbischen Alb überholt hat, der Michl schon gefragt, ob hier ein Olympiastützpunkt sei. Hinterher muss ich sagen: Vielleicht sollte ich ihm häufiger glauben, wenn er was spürt.
Wenn du in den Tag startest mit der Gewissheit, dass du in jedem Fall patschnass wirst, fragst du dich noch lauter als sonst: Warum eigentlich? Wieso, zur Hölle, strampeln wir hier quer durch die Weltgeschichte, obwohl wir gelegentlich richtig faule Säcke sind? Wenn du schon nicht arbeitest, ruh dich doch aus, verdammt nochmal. Mach Urlaub. Einfach mal sozial unauffällig ausspannen. Und wir? Freuen uns das halbe Jahr aufs Gegenteil. Wir strengen uns an, für nix und wieder nix. Und das Beste: Wir posten das sogar überall. Es ist ja nicht weit hergeholt, dass wir mit allem was wir knipsen und schreiben einfach nur angeben. Die einfachste Erklärung lautet: Weil wir’s können. Erklärt aber nicht, warum wir’s machen. Jedes Jahr wieder. Obwohl es weh tut: dieser Berg, diese gebrauchten Beine, diese Tour und überhaupt. Vielleicht gerade deshalb? Wir lieben den Schmerz? Nein. Das kann ich für uns beide ausschließen.
Lassen wir mal die landläufigen Erklärungen weg. Also jetzt nicht: Reisen bildet. Vom Rad aus siehst du viel mehr, riechst alles, tust gleichzeitig was für die Gesundheit und lernst Leute besser kennen. Oder Adrenalinproduktion durchs Radeln, soll ja durchaus vorkommen. Und auch nix mit klimaschonendem Reisen. Im Ernst: Würde ich zwei Wochen schwitzen, frieren und meinen Körper an den Rand der Verzweiflung schinden, nur wegen des Klimas? Naja, vielleicht. Aber wenn ich ehrlich bin: Eher nicht.
Ne, ich vermute stark, uns treibt eine durchaus „schwäbische“ Motivation aus den Betten, morgens um Siebene, wenn der Michl im Dauerregen zum Frühstück appelliert, weil er gegen Achte ein Trockenfenster auf seiner Schweizer Wetter-App entdeckt hat. Schwäbisch ist dabei etwas Klischee, sorry, aber ich will darauf hinaus, dass die Anstrengung so eine Tour aufwertet. Schwaben, sagt das Klischee, wären für solche Gedanken besonders anfällig. Weil wir was tun, arbeiten, uns schinden, haben wir vor uns selbst die Legitimation, die Belohnung zu kassieren. In Form von Erlebnissen, Bergaussichten und Käsfondues. Gleichzeitig hilft mir die (im Grunde sinnbefreite) Leistung, beim Schreiben des Tagesbuches. Mach ich ja schon lange, bei jeder Tour. Aber halt auch nur dann. Nur beim Radeln ist mir‘s nicht peinlich übers eigene Erleben zu faseln. Wirr und etwas beliebig in den Themen. Ich würde auch niemals ein Protzbild mit olympischen Ringen posten. Niemals. Nur beim Radfahren.
Ich vermute der Punkt ist folgender: Die Anstrengung des Radfahrens adelt unsere Reise. Sie gibt uns das Gefühl, wir hätten verdient, was wir uns mit dieser Tour gönnen. Wir genießen den Luxus, den wir uns leisten, deshalb mit bestem Gewissens, weil wir uns durchs Strampeln einreden können, der Luxus sei Belohnung und darum „ehrlich“ verdient. Darüber hinaus ahnen wir, dass unsere Mitradlerinnen und Mitradler dieses Zusammenspiel von Anstrengung und Belohnung ebenfalls honorieren. Weshalb wir unsere Tour sogar öffentlich ausstellen. Als wär‘s ne Heldentat. Ne, ist es nicht. Es strengt an, das schon. Aber im Rahmen unserer Möglichkeiten. So ist das nicht nur bei uns, sondern bei vielen Ausdauersportlern. Währenddessen ist‘s gar nicht so toll, aber hinterher betrachtet: Ey, war doch Weltklasse!
Versteht ihr, was ich meine? Ach… vielleicht ein bißchen. Ist ja auch nicht so wichtig.
Erkenntnis des Tages: Die Schweizer Wetter-App hat den Michl mal sauber beschissen. Laut der App hätten wir heute morgen und heute Nachmittag zwei längere Vollduschen abbekommen müssen, die uns gewaschen hätten. Dazu muss man wissen: Der Michl guckt bei dieser Wetter-App nicht nur auf Regen oder nicht Regen. Der guckt auf die Minute. Wann der erste Tropfen kommt und wann der letzte. Aber die Wetter-App wie Hütchenspieler. Drei Jahre wiegt sie den Michl in absoluter Sicherheit, sie lässt den Genossen Michl den ewigen Eid aufs Schweizer Kreuz ablegen und wenn sie den Michl komplett um den Finger gewickelt hat, dann zockt sie ihn ab. Alter meteorologischer Hütchentrick. Heut jedenfalls blieben Hagel, Blitz und Mordio im Jura hängen. Wundervoll! Während die Einheimischen mit ihren schicken Stadträdern in kurzer Hose und T-Shirt durch Lausanne gecruised sind, trug ich Regenhose, Monstercape und wasserdichte Socken. Zwei overdressete, aber glückliche Radler. Und kein Vertun: Die Gnade des heutigen Wetter haben wir natürlich vollauf verdient.