
10 Juni Ikea-Effekt
SCHWATZIERFAHRT, Etappe 13, Gattinara – Baveno, 65 km, 1400 Höhenmeter
Das Fachportal Quäldich gibt die steilste Stelle mit 16 Prozent an. Anders ausgedrückt: Es ist kompletter Schwachsinn, auf den Mottarone zu radeln. Zumal die steilen Stellen unten sind. Bedeutet. Drei Viertel des Aufstiegs sind die Beine bereits ruiniert. Egal. Wir machen es trotzdem. Der Flow ist da. Die Etappe von der Länge überschaubar. Also wann, wenn nicht jetzt. Nicht dass einer von uns dran gedacht hätte, trotzdem würde ich gern an dieser Stelle die Information hinterlegen, dass es eine Bergbahn zur Auswahl gäbe. Womöglich eine, die Fahrräder mitnimmt. Jetzt gibt’s viele Gründe dort nicht einzusteigen, im Falle vom Mottarone zusätzlich noch das Unglück vor ein paar Jahren. Also wir wie selbstverständlich die erste steile Rampe hoch, in den Rhythmus kommen und warten bis man oben ist. Ach ja, während des Wartens das Treten bitte nicht vergessen. Zum Schluss der selbstgewählten Anstrengung stehen wir genau dort, wo die Seilbahn endet – und genießen exakt dieselbe Aussicht wie diejenigen, die mit der Seilbahn hoch sind. Wir schauen in dieselbe Speisekarte des Bergrestaurants. Jetzt will ich nicht behaupten, dass ich den Berg toller finde als diejenigen, die aus der Seilbahn kommen. Was ich allerdings sicher sagen kann: Den Mottarone find ich noch superer als wenn ich selbst die Seilbahn genommen hätte.
IKEA-Effekt nennt man das. Es sei wohl nachgewiesen, dass man ein Möbelstück schöner und findet, wenn man es selber zusammenbaut, statt einfach nur kauft und hinstellt. Das ist deshalb bemerkenswert, weil wir Menschen sonst nicht dazu neigen, mehr Aufwand zu treiben, wenn dasselbe dabei rauskommt. Warum auch? Wir sind doch nicht doof! In der Küche nehm ich den Mixer, um mir langes Rühren zu ersparen. Aber unter Umständen geb ich zu: Würd ich die Schlagsahne von Hand aufschlagen, würd ich sie vermutlich noch besser finden. Obwohl sie natürlich exakt gleich schmeckt.
Eigentlich ein Selbstbetrug allererster Sahne. Und weil wir diesen Eigenbeschiss so gut beherrschen, strampeln wir halt weiter hoch. Aber nicht nur das. Ich seh schon die Gedanken, die im Herbst aufkommen. Irgendeiner wird schon auf ne Karte schauen, und dem Anderen zeigen, wo man ebenfalls hochschnaufen könnte. Unbedingt. Weil hinterher finden wir es ja noch besser, was wir gemacht haben. Dass wir uns verdammt gequält haben: Haha, längst vergessen. Damit würden wir doch zugeben, dass wir komplett meschugge sind? In diesem Zusammenhang soll mich bitte niemand an meine Beine auf Etappe 4 erinnern. Satte 100 Kilometer wollte keins von beiden auch nur einmal ein Pedal durchtreten. Mal ehrlich, es war eine Etappe aus dem Horrorfilm. Sie wurde erst gut, nachdem das Radeln vorbei war. Michl hatte den Tag zum Vergessen bei Etappe 10. Er wird mir‘s nachfühlen. Und kaum sind ein paar Tage vergangen, wird die Qual umgedeutet. War doch notwendig, dieses Plagerei! Und vermutlich aus dem einfachen Grund, damit wir nicht selbst zugeben müssen, dass es im Grunde schwachsinnig ist, den Mottarone raufzutreten. Obwohl ich zugeben muss: Als der Berg im Mittelteil flacher geworden ist, und dazu eine leichte Luft von hinten spürbar war: Astreine Weltklasse-Momente! Da kann man sich so schön einbilden, dass man weitere Bäume ausreißen könnte. Ein paar Minuten lang.
Erkenntnis des Tages: Psychologisch auch total interessant, ist folgendes: Normalerweise leben wir Menschen voll in der Gegenwart. Die Intelligenten machen sich über die Zukunft so ihre Gedanken. Die Vergangenheit oft nur was für Historiker. Jetzt kann man beim Michl nicht behaupten, er wäre ein Historiker oder würde sich lange beschäftigen mit dem, was zurück liegt. Aber heute morgen, so ungefähr bei Kilometer 30, der Michl plötzlich komplett in der Vergangenheit gelebt. Da hat er akribisch überlegt, wo er heute gewesen war, wo er überall rumgestanden ist und wem er bereits begegnet ist. Dann kurzes Kommando von hinten: „Bernd, wenn wir aus dem Ort sind, schnell rechts ran fahren.“ Sprich kurzer Ausflug in die Zukunft. Aber dann wieder abgetaucht in die Vergangenheit, der Michl. Als ich dann einen Feldweg gefunden hatte, ging’s echt schnell. Das muss ich dem Michl hoch anrechnen. Geistesgegenwart 1A. Der hat sich sofort nackig gemacht. Radhose aus, Radhose wieder an. Diesmal richtig rum und nicht linksrum, sprich Sitzpolster nach außen. Und bei der ganzen Aktion blieb er echt mega vorsichtig. Den orangen Leuchthelm hat er nämlich auf gelassen. Du kannst als Radler alles ausziehen, aber niemals den Helm. Schon wegen Vorbild für die Jugend. Verkehrssicherheit total wichtig. Stichwort: Sehen und gesehen werden.