01 Jun Generalüberholung
Etappe 3, Tourette de France, Ensisheim – L‘Isle sur le Doubs, 137 km, ca. 1.500 Höhenmeter
Schicksal eines Ausreißversuchs. Wenn du vorne fährst und platzt, frisst dich das ganze Peloton. Einer nach dem anderen. Mitleidslos ziehen sie an dir vorbei. Die Ersten stellen dich ab, als wärst du festgeklebt. Die Verfolger kaum langsamer. Sie kommen von hinten, lautlos, scheinbar ohne zu atmen. Lockerer Tritt. Mensch und Maschine als Einheit. Bei mir anders: Da wird die Maschine malträtiert. Gebrauchte Beine stempeln die Pedale von oben nach unten. Jeder Tritt eine Überwindung. Ästhetik im Minus-Bereich. Dreihundert, vierhundert geölte Blitze haben mich heute überholt, praktisch Generalüberholung. So flüssig ging das denen von den Pedalen, dass die paar Kilo Gepäck an meinem Sattel als Erklärung nicht in Gewicht fallen. Hat ja keiner wissen können, dass der Grandfondo Tres Ballons heute den selben Aufstieg zum Ballon d‘Alsace nimmt. Zur selben Zeit. Zu meiner Verteidigung wäre vielleicht anzufügen, dass wir mit dem Rennen gar nichts zu tun hatten. Sind halt zufällig dieselbe Strecke gefahren. Angefeuert wurde ich trotzdem von den Leuten am Straßenrand. Dacht ich. Objektiv gesehen galt der Applaus eher dem Sportskameraden, der gerade wie Pfeil an mir vorbeischoss. Vielleicht sollte man der Fairness halber erwähnen, dass die Sportskameraden bereits am Morgen zwei Ballons, also Berge, in den Knochen hatten. Der Vollständigkeit halber darf jedoch nicht verschwiegen werden, dass ich kurz vor den Bergwertung auch einen geschnappt habe. Ha!
Großer Zufall, dass wir den kleinen Helden der Gegenwart huldigten. Praktisch live. Der Ballon d‘Alcase war ursprüngliche gedacht den Helden der Vergangenheit zu gedenken. Und damit meine ich ausdrücklich nicht Jan Ulrich. Bezeichnend, dass der Spruch, den man mit Ullrich in Verbindung bringt, natürlich von Udo Bölts stammt, seinem Teamkameraden. „Quäl dich, du Sau.“ Weil Ullrich am Col de Hundsrück einzubrechen drohte. Diesen Col hatten wir umfahren. Ungleich bedeutender für den Radsport der Ballon d‘Alsace. Wegen René Pottier, dem dort oben eine Stele gewidmet ist. Als Erster der ersten Bergbefahrung, die je bei einer Tour auf dem Programm stand. Es war im Jahr 1905. Eine Zeitung schrieb damals: „René Pottier hat damals den Ballon mit 20 Kilometer pro Stunde bezwungen. Wir haben die Mission des Mannes mit dem Herzen einer Bulldogge begleitet. Welch mysteriöse Kraft erlaubt es dem Menschen, die Grenzen des Möglichen so weit zu verschieben?“ Dazu bitte noch die Fahrräder von damals mitdenken. Aua.
Thema Melancholie und Radfahren. Pottier gewann die dritte Ausgabe der Tour im Jahr 1905 überlegen. Zwei Jahre später war er der erste Toursieger, der starb. Erhängt am selben Haken, an dem sonst sein Fahrrad hing. Als Grund für den Selbstmord wird Liebeskummer angenommen. Die frühe Geschichte der Tour hat merkwürdige Todesfälle. Der Erste, der während der Tour starb, war ein Franzose, der 1910 am Ruhetag beim Baden an der Côte d‘Azur ertrunken ist. Sachen gibt‘s.
Melancholie bei uns natürlich null. Ertrunken auch nicht. Glückstag, was das Wetter betrifft, mit Sonnenstunden gar. Stark in der Gewitterumfahrung. Nass nur im Pool der putzigen Bleibe Les Charmettes. Mini-Pool mit Gewächshaus außen rum. Der Michl gleich mit der Radhose rein. Und nicht mal am Beckenrand angestoßen beim Schwimmen, der Zwei-Meter-Hecht. Dazu passabel gegessen, beim Dorffest in der 300-Seelen-Gemeinde Rand bei L‘Isle sur le Doubs. Davon haben sich geschätzte 260 gewundert, was die komischen Radler da machen, die keiner kennt und die kein vernünftiges Wort französisch beherrschen. Die restlichen 40 waren Kids. Aber wie man uns kennt, ganz aufgegangen in der Dorfgemeinde. Erstes Getränk aufs Bürgermeisteramt. Merci beaucoup. In meinem Fall extra verdient, immerhin hab ich heute am Ballon einen überholt. Freilich einen, der nach Maschinenschaden sein Rad getragen hat. Ohne das Herz einer Bulldogge musst du halt die kleinen Erfolge mitnehmen.
Erkenntnis des Tages: Es gibt Dörfer, die sind so klein, dass du beim Dorffest mit den Marken Deiner Fahrräder begrüßt wirst („tu Pinarello / tu Orca“), obwohl du nur einmal vor ner Stunde auf der Hauptstraße durchgebrettert bist.