
29 Mai Folterinstrument
SCHWATZIERFAHRT, Etappe 1, Stuttgart-Trossingen, 133 km, ca. 1.750 Höhenmeter
Jetzt geht das wieder los. Der Morgen hätte so friedlich sein können an Christi Himmelfahrt. Die Ghettoblaster auf Leiterwagen sind fahrplanmäßig erst gegen Elfe angesagt. Zuvor haben die Tiere den Feiertag für sich. Gegen Siebene hat die Elster noch Muse, wenn sie auf dem Radweg ruht. Der Grünspecht kann in Seelenruhe den Wegesrad perforieren und das Reh nascht frische Waldau-Triebe zum Frühstück. Nur mit mir haben sie nicht gerechnet. Mit den frischesten Beinen der nächsten zwei Wochen versaue den Viechern ihre schönste Tageszeit. Erstaunlich wie zackig die Fauna von null auf hundert beschleunigt. Wenn mich jemand so aufschrecken würde, bräuchte ich sofort einen Baum um mich festzuhalten. Da würd mein Kreislauf nicht mitmachen. Sautter auf der Flucht, inzwischen leichte Beute. Kein Wunder bei deinem Ruhepuls, sagt mein formidabler Doc – und verpackt damit charmant die klare Botschaft, dass ich mich gefälligst an den lausigen Kreislauf gewöhnen soll. Also eben kein Antritt wie ein Reh. Es muss wieder die Langdistanz sein, um zu testen, ob noch was geht. Treffpunkt Kiosk an der Waldau. Pünktlich auf die Sekunde erscheint der 2-Meter-Textmarker auf zwei Rädern. Ohne jedes Wort zur Fauna übrigens. Mit so viel floureszierendem Orange am Körper kannst du die Tierbeobachtung vergessen.
Der Michl ja schon am Montag gepackt. Ich erst gestern spät um Elfe. Zuvor noch IT-Probleme gelöst. Neudeutsch: IT-Themen. Probleme gibt’s ja keine. Da denkst du, es werde Urlaub, und sitzt abends da, weil die geplanten Routen nicht aufs Fahrrad-Navi gehen. Früher kein Thema, heute Problem, Problem. Beteiligte Firmen: Apple und Garmin. Bluetooth koppelt nicht – und wir wollen zickzack über Jura um den Montblanc rum (nicht den Stift, den Berg, gell). Ein fähiger Sys-Admin hat mir mal geraten, ich solle auf keinen Fall „Warum?“ fragen, sondern einfach machen, was das System verlangt. Das System sei eh stärker. Und tatsächlich: Keine zwei Stunden hat’s gedauert, in denen ich brav gemacht habe, was die nordkoreanische Systemdiktatur gefordert hat – also meistens den immergleichen Neustart – und nach der zwanzigsten Wiederholung plötzlich: Koppelung! So ist das vor dem Urlaub. Das System lässt dich nicht aus den Krallen. Und wenn du denkst, ein paar Tage keine Systemfragen mehr lösen. Von wegen. Los geht’s erst, wenn das System dich lässt. Gut, dass der Waldau-Kiosk seine Türen offen hat. Drin eine Super-Servicekraft, die ausnahmsweise einen Expresso reicht. Was er drei Stunden vor Öffnung schon arbeitet, will ich wissen. Vorbereitung, sagt er, und einer muss ja Deutschland retten, meint er. Finden wir gut, schnappen den Caffé, und schnüren erleichtert von dannen. Der Typ kann so einen Expresso, der löst garantiert auch die anderen Systemfragen in unserem Land.
Derart beruhigt konzentrieren wir uns auf den Rhythmus des Tretens. Nur einen Fehler bei der Navigation ist mir unterlaufen, als ich dachte „Bahnradweg, nehm ich, der ist ja flach“. Nicht, wenn du den Heuberg-Bahnradweg nimmst. Weil: Heuberg 20. Stuttgart 21. Schon bei der Planung in den Zehnerjahren des letzten Jahrhunderts wusste man, dass die Trasse schwierig anzulegen ist, weil der Hang unter der Alb ein paar tektonische Herausforderungen hat (Probleme gabs schon damals nicht). Also werden Viadukte gebaut. Das Wort „Pfeilersicherung“ taucht immer wieder auf. Die erste Dampflok fährt dann mit acht Jahren Verspätung zum ersten Mal hoch nach Gosheim. Beide Viadukte kosten das Achtfache des ursprünglichen Ansatzes. Inflationsbereinigt. Schon 1966 wird die Bahn stillgelegt. Der Autoverkehr zum Einen und zum Anderen gibt’s keinen, der die dringend notwendige Pfeilersicherung bezahlen kann. Was vom Viadukt übrig blieb, hat sich längst der Wald geholt. Der Radweg führt untenrum, rauf und runter, weil Pfeiler ja ungesichert. Von Stuttgart 21 muss ich gar nicht anfangen. Wer interessiert sich im Talkessel schon für die Heubergbahn?
Die Nacht verbringen wir in den alten Gemäuer von Hohner in Trossingen. In den letzten Jahren ist ein feines Hotel draus geworden. Draußen steht die Büste von Mahhias Hohner, der alte Folterknecht. Tatsächlich hat der mir meine Kindheit ruiniert, genau genommen die Montage. Jeden Montag musste ich in Akkordeon. Mama hat gesagt, dass meine Musiknote besser wird. Aber die Note war komplett verdient. Mama hat einen komplett unmusikalischen Sohn. Ich hab das eingesehen. Mama nicht. Also musste ich fünf Jahre alle Montage in den Unterricht am Folterinstrument. Kennt ihr Stefan Hiss? Den vortrefflichen Stuttgarter Quetschkommodenvirtuosen? Ich bin sein Gegenteil. Sowohl von Statur, als auch Frisur, als auch Talent. Es gibt Menschen, die mit der rechten Hand einen Kreis in die Luft malen und mit der linken Hand ein Dreieck. Gleichzeitig. Ich bin die andere Sorte Mensch. Heute kann ich nicht mal mehr das Zwergenspiel. So lautete das simpelste Musikstück im Hohner-Übungsheft, bei dem man rechte Hand und linke Hand zusammen spielen musste. Irgendwann war‘s aus mit dem Traditionsunternehmen Hohner, und ich gestehe, mein Mitleid hielt sich in Grenzen. Akkordeon, Latein und Tanzkurs – ein Dreiklang meines Versagens trotz ausdauernden Versuchen. Wenigens hat‘s zum Radfahren gereicht. Das Hotel wird geführt vom Dirigenten des Landespolizeiorchesters. Nur damit ihr‘s wisst. Am Feiertag streicht er persönlich das Treppenhaus. Morgen Abend lässt er in Böblingen den Marsch blasen.
Erkenntnis des Tages: Die letzte Fahrt der Heubergbahn wurde stark beeinträchtigt durch ein Schmierseifenattentat. Historisch nicht ganz korrekt. Es könnte auch Fahrzeugsschmiere gewesen sein, das auf die Gleise gebracht wurde. Der Lokführer musste Sand streuen. Dann ging’s in den letzten Bahnhof. Der Attentäter, Flaschnermeister Paul Hermle, bekannte sich 30 Jahre später zu seiner Tat.