Fachkraft - Bernd Sautter
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Fachkraft

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SCHWATZIERFAHRT, Etappe 2, Trossingen – Bad Säckingen, 131 km, 2170 Höhenmeter

So einen Tag darfst du in voller Pracht genießen. Sonnig bis heißer. Klare Luft. Du siehst jeden Kletterhaken, der in der Eigernordwand steckt. Ohne Fernbrille. Vor lauter Begeisterung sind wir die längere von beiden Tourvarianten durch den Südschwarzwald gefahren. Mit Euphorie! Und ohne die Waden zu Wort kommen zu lassen. Aber erstmal Bad Dürrheim.

Du musst wissen: Der Bürgermeister von Bad Dürrheim hat vor ein paar Jahren Jan Ullrich zum örtlichen Radrennen eingeladen. Einfach so. Und der Ullrich hat sich gedacht: Da ruf ich mal meine anderen spritzigen Sportskameraden an. In Bad Dürrheim erschienen sind dann Lance Armstrong, Mario Cippolini, Andreas Klöden und ein paar andere, von denen die wenigsten noch in Talkshows eingeladen werden, es sei denn, sie kündigen an, nochmal was zu beichten. Cippolini natürlich Supersprinter, aber nicht nur Dopingsünder sondern noch schwieriger. „Wenn ich nicht Radstar wäre, wäre ich sicher Pornostar“, hat er mal gesagt. Selbstbwusstsein also nicht sein Problem. Oder doch weil Überdosis. Mario wurde Im Juni 2022 in erster Instanz zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Seine Ex-Frau Sabrina hatte ihn wegen Körperverletzungen, Misshandlungen und Drohungen angezeigt. Sie berichtete von Übergriffen im Privaten und bei der Arbeit, teilweise habe sie im Spital behandelt werden müssen. Was machst du jetzt da als Oberbürgermeister, wenn du den Ullrich gerne da hast und den Cippolini on top bekommst. Klarer Fall als Politiker. Augen zu und durch. Und das funktioniert auch. Seit kurzem hat Bad Dürrheim ein Jan-Ullrich-Museum. Und weil man das alles kaum glauben kann, wir natürlich hin. Natürlich nicht drin, so früh morgens. Aber gecheckt ob das wirklich stimmt. Stimmt!

Das Gegenteil vom Ulle der Sportskamerad Luz. Danke an den formidablen Leser, der ihm gestern den Ehrentitel „der Woltemade des Radsports“ geschenkt hat. Im Gegensatz zum Ullrich der Michl wirklich ein Philosoph. Ullrich ja nie redselig gewesen. Michl Redseligkeit par excellence. An einer dieser vielen schönen Schwarzwald-Passagen stellt er fest, dass Himmel und Hölle beim Radfahren so dicht beieinander liegen wie sonst nirgends. Schnürst du locker über Schwarzwaldmatten, auf einem leicht fallenden Sträßchen ohne Verkehr, denkst du Himmel. Und keine drei Kilometer später, nach feinster Abfahrt geht die Chose wieder steil nach oben und du denkst, zur Hölle, warum mach ich den Mist eigentlich? Also Euphorie und Idiotie. Yin und Yang. Rauf und runter. So dicht beieinander. Schlägt in einer Straßenkuppe um. Faszinierend. So geil ist das. Wenn du Rad fährst, kannst du dir die anderen Drogen komplett sparen. Funktioniert aber nur, wenn du gelernt hast, Höllenfeuer in den Waden zu genießen.

Trotz allem: Als Höhentraining geht der Südschwarzwald nicht durch. Drum ist auch die deutsche Nationalmannschaft bei der WM 82 in Spanien nur Zweiter geworden. Weil sie beschissen wurden. Der Hotelier Schweimler vom Schluchsee hat sie nämlich zum Trainingslager hierher gelockt. Argument: Super Hotel, super Höhentraining. Hat man damals noch nicht so genau gewusst, dass ein Höhentrainingseffekt erst ab 1500 Meter Meereshöhe nachweisbar ist. Und der DFB hat das sowieso nicht gewusst. Also die Jungs hier nicht so arg viel trainiert, weil Höhentraining musst du ja langsam angehen lassen. Darfst du nicht übertreiben, so nah am Himmel. Abends sind sie dann in die Disco nach Waldshut abgehauen. Nachher sprachen die Spieler nur vom Schlucksee. Schweimlers Hotel Vier Jahreszeiten war damals ne unbekannte Bude. Nach dem Trainingslager kannte es jeder. Du musst halt ein guter Verkäufer sein. Erst neulich hat es verkauft, der zwischenzeitliche Honorarkonsul der Kapverden. Guter Mann.

Trainingseffekt gibt’s hier nur, wenn du es machst wie wir. Yin und Yang. Da orderte der Woltemade in St. Blasien glatt einen Schwarzwaldbecher. Gute Idee, fand er. Weil Affogado mit einer Kugel Eis starke Fünf-Fuffzich. Schwarzwaldbecher mit viel mehr Eis und aufgepumpten Kirschen Acht-Nochwas. Deal! Aber die Super-Servicekraft sehr ernst geschaut. „Den kann ich ihnen nicht empfehlen, das ist Alkohol drin, das muss ich ihnen als verantwortungsvolle Fachkraft schon sagen.“ Da hat der große Philosoph gleich die Win-Win-Situation gesehen. St. Blasien spart das Kirschwasser und er erhält trotzdem den vollen Becher. Mit viel Eis. Da muss ich schon sagen, Helm ab vor so viel Geistesgegenwart. Ernährung so wichtig beim Tourenfahren. Kirschwasser wäre reines Gift gewesen. Hoch nach Ibach dann versammelter Trab angesagt bei uns beiden. Michl mit Vortrieb a la Kirsch. Wie mein Informant Chris Prechtl mitteilt, war dort in Ibach der Nawalny nach seiner Vergiftung zum Fitwerden. Hätte ihm doch eine verantwortungsvolle Fachkraft befohlen, in Ibach zu bleiben.

Erkenntnis des Tages: Der Michl ganz gewitzter Analyst. Der hat das gleich gecheckt. Kaum sind wir auf Tour: Shimano-Aktie plus 7 Prozent, ungefähr. Vorhin hat er nochmal geguckt. Bevor ich‘s hier was falsches schreibe. Und prompt der Rücksetzer. Kurs wieder unten. Ergo: Unsere Form bestimmt den Kurs. An so einem euphorischen Tag wie heute ist dir plötzlich alles sonnenklar.