Der Ort, den es nicht gibt - Bernd Sautter
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Der Ort, den es nicht gibt

Der Ort, den es nicht gibt

SCHWATZIERFAHRT, Etappe 14, Baveno – Osteno, 121 km, 1700 Höhenmeter.

Schon wieder dieses Hin und Her. Ging mir im Jura schon so, dass ich nicht mehr wusste, wo ich bin, in der Schweiz oder in Frankreich. Je nach dem auf welcher Seite des Baches die Straße verlief warst du hüben oder drüben. Jetzt surfen wir am Lago di Lugano entlang, und ich wunder mich schon wieder, warum dort vorne angezeigt wird, dass es jetzt in die Schweiz geht. Ich dachte ja, ich wär schon da. Die Grenzziehung um den Lago di Lugano müssen die Eidgenossen mit den Herzögen von Mailand am Rande einer ordentlichen Sauferei ausgemacht haben. Der einzige, der noch einen Stift halten konnte, malte ein paar Kringel auf die Landkarte. Kann noch einer unterschreiben? (Hicks) Egal (Hicks). Das machen wir jetzt so. Ein paar Ecken haben sie dabei vergessen – und wenn man ehrlich ist: die schönsten.

Die Gegend ist ja vollgestopft mit Hej und Wow und Amazing. Von allem etwas: Zu schön um wahr zu sein, Must-see, Jet-Set, Marketing, hip, überlaufen und wirklich traumhaft. Vollgepropft ist es wirklich, soweit ich das beurteilen kann. Was meistens an der Tatsache liegt, dass zwischen See und Steilhang viel zu wenig Baugrund vorgesehen wurde als die Kontinentalplatten aufeinander drifteten und die Alpen hochgefaltet wurden. Das hat zu einer selten merkwürdigen Struktur geführt. Unten an den Seen geht die Post ab. Je näher wir Mailand kommen, kommt auch noch Industrie dazu. Und ganz oben, gibt’s wenig bis nichts. So wie in Erbonne, einem kleinen Dorf, wo 7 Menschen leben. Andere Quellen behaupten es wären 5. Und jetzt kommt’s: Diese paar Häuser namens Erbonne sind der älteste Ort im europäischen Voralpenland. Man weiß aus Grabungen, dass Neandertaler vor mehr als 60.000 Jahren fröhlich durch den Ort wanderten. Und es ist gesichert, dass Erbonne 250 Jahre älter ist als Rom.

Nach Erbonne haben wir übrigens geschoben. Nicht wegen platt, sondern Maultierpfad. Der Michl wollte mir das zeigen. Weil total einsames Tal. Kannst du super hochkurbeln, das Muggio-Tal. Echt harter Kontrast. Unten liegt Mendrisio, das eigentlich nur eine Agglomeration aus Autobahn, Wohnanlagen, Sichtbeton und Foxtown-Outletcity darstellt. Genau dort musst du unerschrocken durch. Nach zwei Kilometern hast du die feinen Wohngebiete am Hang überwunden und biegst ein in gottverlassenes Gebirgstal. Nach wunderschönen 15 Kilometern durchs Muggio-Tal hört die Straße auf, im Dorf Scudellate. Aber nicht ganz Ende Gelände. Wenn du – wie wir – 20 Minuten dein Rad über einen Maultierpfad trägst, kommst du in Erbonne raus. Jetzt bist du in Italien, über die grüne Grenze sozusagen. Bis hierhin ziemlich gewöhnlich.

Aber jetzt pass auf: Die meisten Leute, die in den letzten Jahrhunderten im italienischen Erbonne gestorben sind, wurden im schweizerischen Scudellate begraben. Die meisten Leute, die in Erbonne geboren wurden, sind in Scudellate zur Schule gegangen. Der Pfad hat also mehr Tradition als die Via Mala. Und warum? Ganz einfach, weil die im Mittelalter beim Saufen die Sachen nicht richtig geregelt haben. Grenze schon gezogen, aber Abgabenpflicht übersehen. Resultat: Mehr als 300 Jahre Streit. Auf der italienischen Seite haben sie gesagt, wenn ihr Erbonner nicht anständig zahlt, macht euren Dreck allein. In Erbonne haben sie geantwortet: „Machen wir. Dann gehen wir einfach die 10 Minuten über den Pfad nach Scudellate, wenn wir was brauchen.“

Ist das nicht schön? Wie die Leute sich einen Dreck drum scheren, wo Grenzen verlaufen. Also ihr Idioten von Rechts und Außen: Grenzen braucht kein Mensch. Der Trick ist: Einfach die Abgaben sauber regeln, dann passt das schon. In Italien hat das Ding mit Erbonne 300 Jahre lang keinen gestört. Die Straße, die wir von Erbonne nach Intelvi, sprich Hauptort auf italienischer Seite, gefahren sind, gibt’s erst seit 1895. Zirka. Vorher war für Italien Erbonne der Ort, den es nicht gibt. Erst mit dem Straßenbau ist Erbonne wieder auf italienischen Landkarten aufgetaucht.

Erkenntnis des Tages: Von Grenzen profitieren nur Verbrecher. In Erbonne gab’s manche, so lange die Schmugglerei noch einträglich war. Auch wir alten Tagesschmuggler wurden dort empfangen. Ein freundliche Abordnung aus Osteno wartete auf uns an der Kirche, um uns verirrte Fahrradträger ans Ziel nach Osteno zu bringen. Aber jetzt keine Hektik, liebe Mitradlerinnen und Mitradler. Morgen geht‘s weiter. Morgen kommt das Wichtigste. Versprochen.