Das Meer halt - Bernd Sautter
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Das Meer halt

Das Meer halt

Neues von den Balkanplatten, Etappe 21, Papigko – Igoumenitsa, 115 km, 1.900 Höhenmeter

Das Meer halt. Was willst du machen? Es muss sein, leider auch auf dieser Tour. Im Frühjahr war ich bei einem runden Geburtstag eingeladen. Dem fantasievollen Jubilar beliebte es, weit weg von zu Hause zu feiern: im letzten Eck von Frankreich. Am Meer halt. Den Apero gab es mittags am Strand. Nicht dass du denkst: Badehose. Eher Winterdaune mit Wollpulli drunter. Mitte April. Es war arschkalt und stürmte. Wir standen ungemütlich in einem Gischtwolkengemisch. Unter einem Pavillon. Aber das Dach nützte nichts. Das Wetter kam von der Seite, durch die teuerste Daunenjacke. Der Atlantik war nicht zu sehen, aber voll zu spüren. Die kleine aber erlesene Gesellschaft stand in Schräglage, bemüht, das Sektglas senkrecht zu halten. Neigung der Personen: vielleicht 5 Grad backbord zu lotrecht. Neben mir rang der große Stuttgarter Erzähler Joe Bauer um seine gewohnt aufrechte Haltung. Ein Leidensgenosse nicht nur im dieser Situation. Er verstand mich sofort, als ich ihm mein Leid klagte, dass ich fast in jedem Urlaub aus unerfindlichen Gründen am Meer lande, obwohl ich es gar nicht will.

Rundreise mit dem Auto: Irgendwann landest du in einem Seebad. Urlaub mit der Partnerin: Bevorzugt am Meer. Städtetrip mit den Groundhopping-Jungs: Komm‘ lass uns da draußen am Strand ein Restaurant suchen, da kann man schön aufs Meer gucken. Und immer bin ich der Einzige, der sich fragt: Warum? Warum soll ich aufs Meer gucken? Das Menü im Restaurant wird davon nicht besser. „Das beruhigt“, „Die Wellen“, „Die Ferne“ werden häufig als Argument vorgebracht. Ey, ich bitte dich. Das Rauschen der Bäume wirkt ebenso beruhigend. Dazu muss man nicht ans Meer. Kann man hören und sehen von den meisten Balkonen aus. Interessanter jedenfalls als die ewig selben Wellen. Natur viel abwechslungsreicher übrigens. Und Ferne? Das schwächste Argument. Alle Nase lang postet die halbe Welt Urlaubsfotos auf Insta. Nichts läge mir ferner als ein Foto mit Blick aufs offene Meer zu posten. Also nur Hintergrund, ohne Vordergrund. Ich erinnere niemand, der das macht: Das Meer posten, weil die Ferne so toll ist. Im Gegensatz dazu: Berggipfel. 360 Grad Rundumblick. Nach jeder Seite anders. Jetzt wieder Meer: Nur 180 Grad Semi-Rundblick. Wenn du dich rumdrehst. Weil Meerrichtung ist ja nur Meer. Da musst du nur kurz gucken, dann weißte Bescheid. Das Meer halt.

Das ist ja auch meine Kritik als Radfahrer am Meer: die Einschränkung des Aktionsradius. Da ist ja sogar ein kultureller Städtetrip nach München besser. Egal wo du stehst: Du kannst überall hinlaufen. Nehmen wir… sagen wir… Barcelona. Auch tolle Stadt. Frage nicht. Aber wenn du vorne am Strand stehst. Du kannst nur seitwärts oder rückwärts. Oder in die Privatjacht von befreundeten Bonzen – und war will das schon. Die schaukelt doch bloß. Badeurlaub? Durchaus ein Argument. Aber Salz und Sand. Wie wunderbar ist dagegen ein verträumter Gumpen eines Gebirgsbaches. Klares Wasser, null Sand, und die Kids können fantastisch spielen. Ohne, dass du den halben Sandstrand in den Kleidern nach Hause trägst.

Das musste ich mal loswerden, weil wir heute von der wunderschönen Vikos-Schlucht ans Meer gefahren sind. 600 Höhenmeter runter, eingetaucht ins tieferliegende Wolkenmeer, das gerade von der Morgensonne verjagt wurde. Frische Luft ums Näschen. Ein Traum von der Kulisse. Andere Schluchtseite wieder 600 Höhenmeter hoch, wehmütige Blicke zurück, über die Passhöhe und neue Perspektiven aufs nordgriechische Bergland. Rauf und runter, dass es eine wahre Freude ist. Gute Straßen übrigens, kaum Autos. Nach Kilometer 70 setzte ein weiterer Pass an. Obwohl wir fast ne Stunde hochkurbelten, kann ich mich an genau drei Autos erinnern. Also eigentlich mega, das alles. Aber dann grüßt mal wieder das Meer und sein Klima. Jassas, ist das heiß. Akute Wadenschmelze. Spätestes als wir vier Kilometer vor Igoumenitsa das Meer sahen, war‘s vorbei mit der schönen Etappe. Typischer Hafenstadtverkehr. Sonne von oben, obwohl schon abends gegen Fünfe. Wie seeligmachend war die gerichtete Morgensonne in der Vikos-Schlucht. Wie unerbittlich brezelt der Planet auf die durchschnittliche Hafenstadt.

Jetzt kannst du natürlich einwenden, dass rund 15 Prozent der Weltbevölkerung in maximal 10 Kilometer vom Meer weg wohnen. Die meisten von denen können tatsächlich nichts dafür, weil dort geboren oder anderweitig verwurzelt. Das erklärt aber nicht, warum rund 40 Prozent aller Urlaubstage in Europa in traditionslosen Badeburgen mit Strand oder in Städten am Meer verbracht werden. Tatsächlich wimmelt es am Meer von touristischen Hochburgen. Und aus jüngster Erfahrung kann ich dir sagen – wobei ich für uns alle spreche: Die Küstenetapoen vorne am Ufer entlang waren stets die langweiligsten Abschnitte. Was bergig oder inländisch wurde, da hat uns der Atem gestockt, und nicht nur aufgrund der Höhenmeter. Zugegeben : Wir sind Fahrradfahrer und wer von Villach nach Igoumenitsa fährt, steht unter dringendem Verdacht, es mit der Leidenschaft hochkant zu übertreiben. Und trotzdem: Vorne am Meer entlang zu fahren, dort wo alle sind, die dir auch zuhause an einem normalen Werktag im Stau vor der Nase rumstehen, das ist eher lästig. Wenn du im Urlaub mal andere Leute und was Anderes sehen willst: Geh mir weg vom Meer.

Erkenntnis des Tages: Ich hätte eine neue Definition von Balkan vorzuschlagen. Die Folgende: Balkan ist dort, wo du beim Einkaufen mit dem Auto zwingend den Motor laufen lassen musst. Egal, ob du dich bei deinen Besorgungen vetratschst oder nicht. Bei der Definition würde allerdings Griechenland allerdings zwingend zum Balkan gehören.