01 Jun Abfahrt
Bergerfahrung, Etappe 7, Huben – Lago Di Misurina. 102 km, 2.100 Höhenmeter
Eigentlich unverständlich. Dabei ist die Abfahrt beim Radfahren der schönste Teil. Aber geschrieben wird selten darüber. Respekt vor den Downhillern des Mountainbike, die haben das erkannt. Auf dem Rennrad gibts keine eigene Disziplin für‘s Runterfahren. Gut so, wär ja viel zu gefährlich. Bei den Profis passiert es auch nur selten, dass Rennen in der Abfahrt entschieden werden. Chris Froome, der im Ruf stand, nicht der beste Abfahrer zu sein, hat mal auf einer Pyrenäen-Etappe die Tour für sich vorentschieden. Das war 2016, als er sich zu Überraschung aller an der Passkuppe absetzte. Absetzte wörtlich, er kauerte sich aufs Oberrohr, eine Haltung, die in Rennen mittlerweile verboten ist. Matej Mohoric hat Mailand – Sanremo gewonnen, weil er auf der letzten kurzen Abfahrt runter gebrettert ist wie ein verrückter. Er hatte vom Mountain-Bike den absenkbaren Sattel einbauen lassen. Und ist damit runter gestochen wie es sonst nur Tom Pidcock kann. Mohoric gewann in San Remo, halt auch weil die allesentscheidende Abfahrt nur 3 Kilometer vor dem Ziel ist. Pidcocks Abfahrt vom Galibier hatte ichletztes Jahr live gesehen. Es war die Etappe nach Alpe d‘Huez, die er auch gewann. Es hat nselten jemanden gegeben, der mit dem Rad so gut umgehen kann wie Thomas Pidcock. Ein Messi des Radsports. Aber wie er in einer Haarnadel außen überholt, das hältst du als Pidcockfan kaum aus. Warum er nicht kilometerweit den Abgrund runtersagest, sondern mit beiden Reifen auf der Straße haften bleibt, bleibt ein ewig ungelöstes Rätsel der Schwerkraft. Doch die drei Beispiele sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Abfahrt oft stiefmütterlich behandelt wird. Nicht von den Trainern im übrigen. Aber von den Radsportbeobachtern. Auch klar: Wenn du übers Abfahren heldenhaft schreibst, sollte man immer dazuschreiben: Mach’s bitte nicht nach. Niemals. Oder nur dann, wenn du Tom Pidcock heißt.
Heute Stallersattel gefahren. Hoch von osttiroler Seite. Runter auf südtiroler Boden. Und wie! Was für eine wundervolle Abfahrt. Schmal wie ein Feldweg. Asphalt wie ne Formel-1-Strecke. Wundervoll runde Kurven, gar nicht so steil. Serpentinenschönheitswettbewerb. Kurven zwischen den Bäumen durch. Als hätten die Bäume grad Platz gelassen. Straße und Wald als Einheit. Als hätte für die Fahrbahn kein Baum weichen müssen. Das macht als Seniorcyclist etwa so viel Spaß wie Kinder das Schlittenfahren. Am liebsten wär ich noch dreimal rauf und wieder runter. Mindestes. Kein Wunder. Im Winter wir das tatsächlich als Schlittenbahn genutzt. Allein deshalb könnte sich ein Urlaub im Antholzer Tal lohnen. Das Beste allerdings: kein Gegenverkehr zu befürchten. Der wartet unten, so wie wir oben gewartet hatten Jede volle Stunde darfst du ne Viertelstunde an der Passhöhe nach unten starten. Sonst musst du ne Dreiviertelstunde warten. Zu jeder halben Stunde startet man von unten nach oben. Könnte man eigentlich an jedem Pass einführen. Zumal die Kioske an den Schranken gutes Geschäft machen. Zum Glück gibt’s keine Fast-Food-Kette dort, sondern ein Kiosk namens Hexenküche, sichtbar liebevoll gestaltet. Da wartet man gerne, läßt den wartenden holländischen Porscheclub vor und die restlichen Touris auch. Dann noch ein paar Momente verstreichen lassen. Und dann wir. Wilde Maus auf zwei Rändern. Unten hatte ich leuchtende Augen wie als Kind. Mama, nochmal.
Glück gehabt auch bei der Tourenplanung. Ist ja hilfreich, wenn die Pässe, die man plant, auch offen haben. Beim Stallersattel hatte ich mich nicht drum gekümmert, so hoch ist der ja nicht. Aber er war tatsächlich erst ein paar Tage offen. Wir nahmen dann den Radweg Richtung Toblach um dann nach Süden abzubiegen. Vorfreude und Ehrfurcht vor der Rampe hoch auf die 3 Zinnen halten sich die Waage. Und nein, die Auffahrt aufs Refugio Auronzo ist nicht schlossen. Der Giro d‘Italia ist da vor ner Woche hoch. Und wir morgen.
Erkenntnis des Tages: E-Bikes sind was wundervolles. Auf dem Pustertal-Radweg sind uns unzählige geführte Touren entgegengekommen. Die fahren mit dem Zug hoch nach Toblach und mit dem E-Bike wieder runter nach Bruneck. Auch sie lieben die Abfahrt. Sichtbar. Auch bei denen haben die Seniorenaugenaugen geglänzt wie sonst nur bei ihren Enkeln. Rein rhetorische Frage: wann sieht man so eine Begeisterung bei Autofahrern?