
09 Sep. Sensenmann
Neues von den Balkanplatten, Etappe 18, Elbasan – Berat, 64 km, 550 Höhenmeter
Wenn wir auf flacher Strecke hintereinander im Windschatten fahren, tut der Vordere gut daran, den beiden Hinteren zu signalisieren, was ansteht. Das Reinwinken mit der Hand, auf der wir auf ein Hindernis zusteuern, ist Standard in vielen Trainingsgruppen. Zusätzlich geht der Vordere aus dem Sattel, wenn wir auf Speedbumps zurollen. Hintern in die Höh, sonst tut er richtig weh. Ein weiteres Warnsignal hat der Floff heute erfunden – und ich muss zugeben, wenn ich nur drauf gekommen wäre, hätte ich es neulich in Bosnien schon gebraucht. Es ist die flache Hand, die sich selbst die Gurgel abschneidet. Mein Bosnien-Moment für die Geste war kurz vor Foča. Blöder glotzen – und dabei nicht zu realisieren, wo die Gefahr wirklich hängt – geht nicht. Ich verlangsamte die Reisegeschwindigkeit ja nur, weil eine Polizeistreife rechts parkte. Polizei in der Republik Srpska, da bist du besser vorsichtig. Der Uniformierte tat aber nichts, außer mit einem anderen Typen zu tratschen. Nichts weiter. Ich wollte gerade in die Pedale treten, als ich einen Meter vor mir auf Halshöhe etwas Unscharfes wahrnahm. Da hing ein Kabel! Quer über die Straße. Einszwanzig über dem Asphalt. Herunterhängend von einer lokalen Stromleitung. Meine Warnung an die Sportskameraden war leider sehr unspezifisch. „Achtung“, schrie ich – und es war mir im selben Moment klar, dass ich präziser hätte signalisieren müssen. Du guckst ja normalerweise auf den Boden als Radfahrer, weil du die Gefahr dort vermutest – und nicht irgendwo hin in die Luft. Aber im ganzen Internationalen Radsport gibt‘s keine Geste für „Kabel des Todes auf Einszwanzig“. Dank Floff gibts die jetzt. Handkante auf Halshöhe, schneidend. Weil heute sind wir durch ganz feines Albanien gecruist. Landwirtschaftlich geprägte Gegend. Da lief uns rechter Hand ein Herr mit Sense entgegen. Sense zeigte eindrucksvoll auf die Straßenseite. Geschätzte Höhe: ungefähr einszwanzig. Der freundliche Sensenmann hat sein Gerät natürlich flugs gedreht. Aber die Geste vom Floff bleibt. Hoffentlich braucht man die nicht all zu oft.
Beim Straßenverkehr muss man die Leute hier schon loben. Freilich: Ein paar Idioten (m/w/x) gibt‘s überall. Hier vereinzelt auf den breiteren Straßen. Weil Radfahrer im Gegenverkehr hält auf dem ganzen Balkan keinen vom Überholen ab und dieses Phänomen gibts schon seit Kroatien. Was in Albanien wirklich augenfällig ist: wie die Leute im dichten Stadtverkehr mit Radlern und untereinander umgehen. Zur Rushhour war beispielsweise Elbasan so dicht wie Neapel. Aber dort in Süditalien fahren alle bis auf den Millimeter auf den Vorderen drauf, dass ja keiner vordrängelt und kein Fußgänger ohne Helikopter mehr über die Straße kommt. In Elbasan – und auch in Tirana – alle umsichtig und freundlich. Für Fußgänger und Radfahrer wird gerne gebremst und gewunken. Ein Festival der Liebe soll unsere Straße sein. Und alle stimmen mit ein. Hach… Ausnahmen bestätigen die Regel. Genau: Busse. Unbedingt Achtung vor Bussen. Wer Bus fährt, hat offenbar eine andere Fahrausbildung gemacht – und zwar eine, in der drin steht, dass der maximale Abstand beim Überholen von Radlern genau 20 Zentimeter beträgt. Warum das so ist, weiß der Sensenmann.
Also zurück zur Landwirtschaft. Mit Albanien ist es nämlich so: Je weiter du weg bist von a) Küste und b) Hauptstadt, umso schöner wird alles. Wir hatten das schon vor Shkodra bewundern dürfen, und jetzt geht‘s wieder los mit der Schönheit des Landes. Was da plötzlich alles wächst. Tomaten und Gurken reifen unter weißen Tüchern, damit die nicht platzen. Sonst hast du Äpfel, Zwetschgen, Aprikosen, Feigen, Pfirsiche, und viele Granatäpfel. Und natürlich Kartoffeln. Ich bilde mir ein, ein Feld mit verblühtem Lavendel gesehen zu haben. Sogar ein paar Reben. Vermutlich für Tafelobst. Will sagen. Du siehst genau: kleinbäuerliche Strukturen. Schnell mal nachgeschaut. Rund ein Drittel des Landes arbeitet in der Landwirtschaft. Ordentliche Exportquote. Albanien beliefert den gesamten Balkan. Leider sind dort die Gewinnmargen nicht besonders. Auch in Heil- und Würzpflanzen ist Albanien stark. Bohnenkraut, Thymian, Bergtee, und, und, und. In diesem Segment landet fast die Hälfte der Ernte in Deutschland. Mit guten Margen. Was ebenfalls erwähnt werden muss. Sogar vom Rad sah ich bis auf den Grund der Bewässerungskanäle. Um Tirana rum wäre das undenkbar gewesen. Hier anders. Klares Wasser. Halt dort, wo die Leute mit der Natur arbeiten und nicht gegen sie. Wenn wir heute durch die Zukunft Albaniens geradelt sind, hab ich nichts dagegen. Etwas Modernisierung könnte die Produktion noch vertragen. Aber bitte so, dass nicht die Modernisierer die Kohle abschöpfen sondern der Cash bei Bauern bleibt. Danke.
Erkenntnis des Tages: Beurteile nie ein Land anhand seiner Hauptstadt. Schon gar nicht als Radfahrer. Addiere zur Hauptstadt unbedingt den sogenannten Speckgürtel dazu. Er könnte unter Umständen ein Dreckgürtel sein. Wenn ich allerdings einen Wunsch äußern dürfte, liebes Albanien: Lasst Euch auf Friedhöfen bitte was Anderes einfallen als dieses Meer von Plastikblumen. Plastik ist eh schon überall. Das haben Eure Vorfahren nicht verdient. Nur so als Anregung. Hochachtungsvoll: Euer Bernd.