
05 Sep. Durchgeschüttelt
Neues von den Balkanplatten, Etappe 14, Zabljak – Andrijevica, 124 km, 2120 Höhenmeter
Du darfst niemals einen Tag trauen, der anfängt wie Radlers feuchtes Träumchen. Die ersten Kilometer gleiten wir durchs Bilderbuch von Montenegro. Wir treten kaum und wenn, dann locker hinten im kleinen Ritzel, also in der Übersetzung, die man landläufig als den großen Gang bezeichnet. Es geht 30 Kilometer lang den Berg runter. Moderat. So dass du locker durch die Kurven schwingen kannst. Morgensonne ist an. Verkehr aus, also weniger als auf der Landstraße von Nussdorf nach Iptingen. Jetzt wenn ich sage: großer Gang, muss ich zugeben: Zwei von den Dingen, die ich als Mathe-Physik-Genie nie so richtig verstehe, sind die folgenden: a) Dreisatz und b) Fahrradgänge. Kleines Ritzel – großer Gang. Wenn du mich fragst, das geht doch gegen jede Intuition. Also meine wenigstens. Ich muss jedes Mal das Hirn anstrengen, damit ich das verstehe. Und wenn du mich morgen danach fragst, muss ich mich grad nochmal von vorne anstrengen. Apropos: Das Anstrengen geht heute Abend eigentlich nicht mehr. Du darfst niemals einem Tag trauen, der dem Fritz so richtig gefallen hat. Das bedeutet: Die beiden Anderen sind total im Sack. Ich kriegt grad den einen oder anderen Krampf, wenn ich mit meinem avancierten Ein-Finger-Handy-Tippsystem hier rumfummle. Wofür ich komplett selbst verantwortlich bin.
Wegen optimistischer Streckenplanung. Die Planungsapp meldete schon beim ersten der beiden Pässe losen Untergrund. Aber ich bitte dich: loser Untergrund. Ey, so schlimm kann das doch nicht sein. Spoiler: doch.
Was wir allerdings erlebten, weil wir komplett neben jeder normalen Straße rumgegurkt sind, da machst du dir keinen Begriff. Nachher beim Mittagstisch in Kolašin, hat kaum einer ein Wort gesprochen. Weil unbeschreiblich. Nur geklebbert haben wir. Das erklär ich dir später. Der Reihe nach. Wir querten eine Hochebene gigantischen Ausmaßes. Ganz langsam, weil astreiner Schotter. Nicht so ein schwäbischer Schotterweg, der noch rollt. Schotter Marke Montenegro: Grob, tief, kantig, fies und hört nicht auf. Hochebene ist eigentlich der falsche Ausdruck. Das sag ich jetzt nur, weil das Gelände weit und großzügig ist, umrahmt von steil aufkragenden Bergen in der Ferne. Wenn du aber mit Rennrädern auf dem einzigen Weg durch durch den Schotter pflügst, merkst du: Das Teil ist an keiner Stelle eben, nicht an einer. Aber Landschaft, ich sag dir. Schon bißle Wild-West-Style. Aber dann wieder nicht, weil typisch Montenegro. Also eher typisch Wild-South-East-European-Style. Montenegro hat grad mal runde 600.000 Einwohner. Wenn du da die 150.000, die allein in der Hauptstadt Podgorica leben, nochmal abziehst, kommst du drauf, dass es extrem viel Landschaft geben muss mit kaum Einwohnern. Und genau da sind wir durchgerattert. Faszinierend!
Sinjajevina heißt das, was ich als Hochebene nur unzureichend in Worte fassen kann. Und wenn du liest, dass es dort acht sogenannte Katuns gibt, also Stammesgruppen, die verschiedene Methoden entwickelt haben, ihr spärliches Vieh dort oben zu halten, denkst du vielleicht: Acht Gruppen, da leben doch viele Leute. Aber ich glaub’s nicht. Kaum eine Hütte soweit das Auge reicht. Manchmal in einer Senke sowas ähnliches wie ein Haus. Vielleicht zwei Kilometer Schotterpiste später eine Art Friedhof, also drei eingezäunte Gräber um die fünf Kühe rumgestanden sind. Und dazwischen alles so steinig, das kannst du dir kaum vorstellen. Und jetzt das Beste, sprich wirklich gute Nachrichten. Sinjajevina bleibt! Die montenegrinische Regierung wollte das Gelände für militärische Übungen und Waffentests nutzen. Seit 2018 kämpfen Bewohner und Aktivisten, dass das Gebiet bleibt, wie es ist, und statt Geballer einen anständigen Naturschutzstatus bekommt. Und siehe da: Kürzlich hat der Verteidigungsminister persönlich eingelenkt und es sieht alles danach aus, dass Sinjajevina erhalten bleibt. Am Camp der Initiative sind wir sogar vorbeigerattert. Von nun an ging‘s bergab.
Du kannst durchaus sagen: Von Sinjajevina sind wir gerührt und geschüttelt. Runde 500 Höhenmeter tiefer haben nicht nur die Waden gekrampft sondern auch die Flossen. So ist das halt, wenn du keinen Materialwagen hinter dir hast, der dir kurz mal vollgefederte Mountainbikes reicht. Hinterher im Restaurant in Kolašin, haben sich fast die Nudeln von ganz alleine gekaut, weil das ganze Gebiss von der Abfahrt immer noch geklappert hat.
Was wieder typisch ist für so einen Tag, der mit fast 2.000 Höhenmeter und Schotter sehr optimistisch angelegt ist: Ich hab bei der Planung am zweiten Pass ein Tunnel übersehen. So ein drei Kilometer langes Tunnel, durch das du als Radler besser nicht fährst. Wie gut, dass es eine Umfahrung gab. Wie fies, dass sie nochmal 300 Höhenmeter kostete. Wobei wir uns beim Hochtreten kaum vorstellen konnten, dass der Schotter beim Runterfahren nochmal mieser wurde.
Erkenntnis des Tages: Gravelboom? Don’t believe the hype. Seit Jahren boomen die sogenannten Gravelbikes. Rennradähnliche Geräte, die auch auf Schotter super sein sollen. Nach der heutigen Erfahrung sag ich: Wenn die Wege nicht asphaltähnlich geschottert sind, hilft nur ein echtes Geländerad, vulgo Montainbike genannt. Andererseits natürlich gut, wenn die Leute neue Bikes kaufen. Ob das Verkaufsargument an den Haaren herbei gezogen ist oder nicht, sollte man sich von niemandem einreden lassen, der nicht mal blickt, welches Ritzel der große Gang ist und welches der kleine.