Kopfsprung - Bernd Sautter
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Kopfsprung

Kopfsprung

Neues von den Balkanplatten, Etappe 4, Osilnica – Senj, 98 km, 1850 Höhenmeter

Du hättest drauf wetten können, dass einer der beiden Fachmännern an meiner Seite diese atemberaubende Szene mit einem einprägsamen Fachbegriff auf den Punkt bringt. Und prompt: Nachdem wir die Sprachlosigkeit des Staunens überwunden hatten, war es der Fritz, der die Szene einigermaßen nüchtern und sachlich zu etikettieren vermochte: als Radfahrer-Orgasmus. Nun, vielleicht etwas milde dachte ich, als ich bei runden 50 Stundenkilometern hinter ihm her rollte. Aber mir fiel halt auch nichts Passenderes ein. Bleiben wir also dabei. Vorläufig.

Zum Protokoll des Tages gehört der gestrige Abend, als im Hotel einer auf die Länge und die Höhenmeter der heutigen Etappe schaute, und spekulierte, wie schnell wir wohl die harmlose Überführungsetappe absolvieren würde. Die Fern-Diagnose „Geht ja“ lässt stets darauf schließen, dass etwas übersehen wurde. Oder dass was passiert, womit nicht zu rechnen war. In diesem Fall: Mein Minus-Talent bei der Navigation. Nach wenigen Metern am Morgen befahl ich uns auf das schöne Sträßchen, das zwar in Serpentinen aber einigermaßen entschlossen aus dem Tal führte. Ich könnt’ das jetzt aufs Garmin schieben, aber ich hätt halt diesen Holzweg schon prüfen können, bevor wir 200 Höhenmeter sinnlos verschwendet hatten. Sagen wir so: Warm gefahren waren wir, als wir in das flache Seitental schnürten, das uns routentreu der Adria näher bringen sollte. Und jetzt sag ich dir was. Paar Kilometer später hat keiner mehr gemeckert. Weil Rampenfestival. Diese verwunschenen Sträßchen durch Naturschutzgebiete, in diesem Fall strengstens für Autos verboten, haben meistens einen Nachteil: Wenn der Fels im Weg ist, wird kurz mal senkrecht hoch geteert. Solange der Asphalt trocknet bevor er runterrieselt, passt das ja fürs Bauunternehmen. Aber ich will nicht meckern. Schön ist, wenn der Schmerz nachlässt. Viel schöner als Tal der Kupa, geht’s kaum. Das Stichwort ist Karstgebirge. also Wasser versickert oben auf der Ebene und 600 Höhenmeter tiefer kommt es als Kupa-Bach wieder zum Vorschein. Kupa-Quelle übrigens bißle kroatischer Blautopf, nur ohne Blaubeuren drumrum. Soweit zur Geologie. Nun zum Wichtigsten: Wär ja nicht so, dass wir nicht lernfähig wären. Also das Kilo Waldbeer-Strudel zum Dessert, liebe Ernährungsfetischisten, so muss das: Praktisch Energieriegel in lecker. Und wenn dann der Fritz ein moderates Tempo anschlägt, für ihn wie Mittagsschläfchen, dann passt eigentlich alles, was unter der kroatischen Mittagssonne passen kann.

Durch dichte Macchia nähern wir uns der Adria, hoch oben vom Velebit-Gebirge kommend. Runde 30 Kilometer vor dem Etappenziel wird der Blick frei auf die Adria. Stell dir das ruhig vor wie Heißluftballonfahren per Strampeln, so ähnlich. Jetzt egal, wie du manchmal leidest und dich verfluchst wegen der doofen Idee mit dem Radfahren. Das sind die Momente, die du nie vergisst. Die Kvarner Bucht liegt dir zu Füßen. Du schwebst über den Inseln Krk, Cres und Rab und ganz dahinten schließt der Appenin den Horizont ab. Wenn ich es dir sage: der Appenin. So klar war die Sicht, dass du denkst, vielleicht hat sich Gott genau das hier vorgestellt, ganz am Anfang seiner Schöpfung. Es würde manches erklären. Da oben radeln wir weiter entlang, auf unserer exklusiven Panoramica. Keine Menschenseele, kaum ein Auto. Von Zeit zu Zeit ein Haus, aber nur alle fünf Kilometer eins. Wie laues Lüftchen treibt die Panoramica unseren Heißluftballon nach Südosten, die Perspektive verändert sich leicht, die Höhe bleibt. Und wie immer, wenn es um grandiose Aussichten geht, versagen alle fotografischen Mittel. Das musst du erlebt haben. Vergiß die handelsüblichen Drogen. Wenn du das Gefühl haben willst, mit zwei Pedalen die Welt zu beherrschen, nimm das: genau diese Route. An einem Tag, an dem alles möglich scheint.

Und das Beste kommt noch: Hoch oben über den Etappenort Senj darfst du zur Landung ansetzen. Die Straße wird breiter, der Asphalt besser und ab geht die wilde Fahrt. Kopfsprung in die Adria, aus 800 Metern Meereshöhe. Immer am Berg entlang hinunter, der Fahrtwind wird noch wärmer als eh schon. Und ohne dass du gefragt hast, sagt der Fritz was vom Radfahrer-Orgasmus, und dir fällt den ganzen Abend kein lyrischer Begriff ein, der es besser beschreiben könnte.

Erkenntnis des Tages: Wenn du einen Lauf hast, musst du durchziehen. Dann steht vor deinem Hotel ein Bus eines kroatischen Bundesligisten. Und mit 2 Klicks im Taschencomputer kriegst du raus, dass gerade mal 5 Gehminuten von dir entfernt das Erstrundenspiel im kroatischen Verbandspokal NK Nehaj Senj gegen HNK Vukovar läuft. In einem Stadion, das man sich skurriler kaum vorstellen kann Groundhoppers feuchtes Träumchen, unter der Festung Nehaj in der Abendsonne von Senj. Aber bevor ich heut wegen sowas ins Schwelgen gerate, hör ich lieber auf. Nicht dass ihr denkt, Euer sachlich bodenständiger Protokollant würde an manchen Stellen übertreiben.