
07 Juni Tsan
SCHWATZIERFAHRT, Etappe 10, Morgex – St. Vincent, 102 km, ca 2500 Höhenmeter
Die schönsten Wege sind meistens die Umwege. Du hättest jetzt sagen können, fahr einfach gradaus das Aostatal runter, meistens der Via Francigena entlang, diesen alten Pilgerweg von Frankreich nach Rom. Der viel schönere Umweg führte uns zweimal den Nordhang hoch. Meine Damen und Herren, Vorhang auf für ein grandioses Naturschauspiel. Aber nehmen sie bitte Regenkleidung mit. Schon der erste der zwei Aufstiege führt uns direkt durch die ersten Seiten der Geschichtsbücher des Aostatals. Diese spektakuläre Panoramastraße trägt den Namen Strada dei Salissi. Diese Salasser waren schon vor den Römern da. Das Alpenvolk siedelte offenbar an der schönsten Stelle: auf einem Balkon, runde 800 Höhenmeter überm Tal. 143 v. Chr. kamen dann die Römer. Sie liessen von den Salasser kaum was übrig. Die Strada, die nach ihnen benannt ist, hat durchaus Ahnung von Dramaturgie. Im Himmel der Salasser ziehen Wolken umher, dass es eine wahre Pracht ist. Das Panorama, das du noch vor einer Minute hattest, ist jetzt schon wieder futsch. Zwei Felsvorsprünge weiter flutet die Sonne den Hang. Aber nur kurz. Plötzlich alles weiß hier. Abfahrt im Schritttempo. Wolken zerschneiden. Wir stochern im Trüben, in der Hoffnung, die Straße stets sauber zu treffen. Auf der gesamten Panoramastraße begegnen uns eine Handvoll Fahrzeuge. Erst oberhalb Aosta kann man wieder von Verkehr sprechen. Die von den Salassern geforderten Regenpausen legen wir gerne ein, wissend, dass eine Viertelsunde später wieder Sonne rauskommen sollte. Eine Radtour wie mehrere Saunagänge, mit dramaturgisch wertvollen Perspektiven ins Tal und hoch bis zu den wuchtigen Gipfeln der Gran Paradiso Kette.
Aostatal schon immer Engstelle. Über Gran Paradiso führt kein Pass. Vor dem Montblanc-Tunnel gab’s nur den großen und kleinen St. Bernard als Zufahrt, wenn man vom natürlichen Ausgang des Tals mal absieht. Kein Wunder, dass sich in diesem Bereich ein ganz eigenes Völkchen entwickelte. Nach dem 2. Weltkrieg wollten die Franzosen Aosta vereinnahmen. Nichts da, sagten die Italiener und boten Aosta einen Sonderstatus an. Seither behält die Provinz Aosta 90 % der im Gebiet erhobenen Steuern.
Und nun zum Sport: Wer noch einen Beweis benötigt, dass Sport ein zentrales Kulturgut ist, sollte sich im Aostatal umsehen. So wie Gaelic Football bei den Iren oder Pelota bei den Basken hat auch das Aostatal seinen eigenen Sport. Mir scheint, dass diese tradierten Sportarten immer dort überleben, wo auch eine eigene Sprache überlebt. Wissenschaftlich kann ich‘s nicht beweisen. Aber der Gedanke drängt sich auf beim Besuch der Dorfbar von Verrayes, wo wir einen Espresso brauchen, um den zweiten Pass des Tages zu überleben. Wir kraxeln den Col de Saint Pantaleon hoch. Die Straßen-Graffiti sind noch frisch. Vor ner Woche waren hier Simon Yates, Isaac del Torro und Richard Carapaz zugange. In der Bar löst sich ein Rätsel, das wir vor ner Stunde hatten ungelöst am Wegesrand liegen lassen. Da sahen wir eine stattliche Menschenmenge locker auf ner Wiese verteilt. Ich spekulierte auf Zuschauer eines Modellfliegerwettbewerbs und schäme mich inzwischen, a) für die Vermutung, b) fürs achtlose Vorbeiradeln.
Meine Damen und Herren, sehen und staunen Sie über das Finale der Serie A im Tsan. Drei Gäste und der Chef der Bar schauten den Livestream auf dem Handy. Zusammen waren wir schon Sechs. Das Spiel ist Baseball nicht ganz unähnlich. Aber als wir in der Bar das Wort Baseball fallen lassen, reagieren die Experten wenig wertschätzend. Ein Holzding wird auf einen krummen Ast gelegt, der mittels einer gut befestigten Vorrichtung schräg nach oben zeigt. Der Werfer, der den Ball ins Spielfeld prügelt, muss schauen, dass er dort landet – und zwar ohne dass die Spieler des Gegners mit ihrem Prügel dran kommen. Die Gegner verteilen sich deshalb übers ganze Spielfeld. Das ist die erste Phase von Tsan. Die zweite ist noch merkwürdiger. Wer daraus schlau werden will, google bitte den Stream, der in voller Spiellänge zur Verfügung steht. Ich glaube Chambave gewinnt gegen Montjovet 3477 zu 1383 und holt sich den Frühjahrstitel 2025 in der Tsan Serie A. Ich möchte besonders auf den aufschlussreichen Expertentalk am Ende des Streams hinweisen. Die drei Männer im Studio Campingzelt holen sehr sachverständig alles aus dem Finale raus, was drin war. Leider hatten wir noch den Col zu bezwingen, sonst hätt mich der Michl nicht aus der Dorfbar herausbekommen. Was der Chef mit seinen Gästen sprach, das nicht an uns gerichtet war, verstand ich übrigens nicht im Ansatz. Italienisch war‘s nicht. Französisch hört sich mal ganz anders an. Zweifellos war es Patois, auch Frankoprovenzalisch genannt. Womit ich wieder bei meiner Theorie bin: Wo sich in kleinen Volksgruppen eine eigene Sprache hält, gehört auch einen eigene Sportart dazu. Baskisch, Gälisch, Patois. Nun ja, vielleicht sind drei Beispiele noch zu wenig, um die sporthistorische Wissenschaft zu einer Studie zu bewegen. Aber man kann‘s ja mal versuchen.
Zum Abschluss eines wundervollen Tages also hoch auf den Pantaleon. Da muss ich schon sagen: Da hat die Fauna des Tales alles aufgeboten, um meine Aostatal-Euphorie wieder auf Normalnull zurück zu fahren. Erst springt mich ein Köter an, dann werden wir auf den letzten 5 Kilometer von tausend Mücken begleitet als wären wir Pig Pen von den Peanuts – und das obwohl die Salasser doch eher für ne Asterix Story taugen würden.
Erkenntnis des Tages: Nach Regen folgt Sonnenschirm. Im Aostatal so häufig, dass jede und jeder Meteorologe mit Schwindelanfällen im Spital liegt.