Murmeltierskala - Bernd Sautter
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Murmeltierskala

Murmeltierskala

SCHWATZIERFAHRT, Etappe 8, Beaufort – Bourg Saint Maurice, 40 km, ca 1.300 Höhenmeter.

Jedesmal wenn die Tour über den Cormet de Roselend führt, betont einer der Kommentatoren, es wäre aus seiner Sicht der schönste Pass der Tour. Für dich überprüft: Stimmt. Wirklich nix zu meckern, echt nicht. Hinter jeder Kurve eine Überraschung. Imposante Felswände, kühne Wasserfälle, weite Blicke, ein ausgesprochen hübscher Stausee, ein Wuchtiges Gletschertal, das direkt aus dem Montblancmassiv herführt. Alles verbunden mit einem schmalen Sträßchen, kaum Autos und überhaupt kein Skilift. Dafür nette Bergkneipen mit einladenden Terrassen. Auf der Abfahrt sehen wir Kühe sonder Zahl. Hübsch aufgestellt an überraschend steilen Stellen, dicht an dicht, als würden sie sich fürs Foto aufstellen. Ziemlich stattliche Viecher. Wir lernen: Rinder der Sorte Tarantoise. Nur die Milch dieser Kühe darf für den Beaufort-Käse verwendet werden. Laut Selbstverpflichtung müssen sie oberhalb von 1500 Metern Meereshöhe gehalten werden. Wenn ich eine Skala für die Schönheit von Pässen entwickeln müsste, würde die Kühe jedoch genau so ignorieren wie die den Michl, wenn er in die Herde brüllt „Alle mol hergugga“.

Wenn ich eine Skala für die Schönheit von Pässen entwickeln müsste, würde ich Murmeltiere vorschlagen. Mal im Ernst: Bis jetzt war noch jeder Pass ein toller Pass, an dem wir einen Murmler erspäht hatten: zuletzt zum Beispiel der Umbrail oder der Cayolle. Die Viecher scheinen mir absolut Feinschmecker zu sein. Unter absoluter Höhenlage und feinstem Baugrund wollen sie nicht leben. Im Vorgarten ein paar Steine, in der Nähe soll es pläschern, so mag das Murmeltier hausen. Die Viecher haben Geschmack. Respekt! Dem Cormet de Roselend gebe ich auf der Murmeltierskala glatte 5 von 5 Exemplaren.

Mit den Cormet de Roselend ist unser heutiges Soll bereits erfüllt. Ein so traumhaftes Sträßchen kannst du nicht mehr toppen. Man könnte allerdings durchaus auf den Gedanken kommen, ein paar mal hin und her zu fahren. Als Fahrradfahrer leider schlecht möglich, sozusagen der sportlichen Form halber. Als Autofahrer ebenfalls kaum möglich, weil verboten. Also fast. Sagen wir so: In Deutschland ist es verboten. Die merkwürdige Verkehrsregel von „Fahren ohne klares Verkehrsziel“ stammt von 1956, als die Jugend plötzlich mit Mofas zehnmal um den Block knatterte. Ich erinnere Geschichten von Mütter, die mit ihren Kindern nachts in der Gegend rumgefahren sind, weil sie wussten, dass ihre Babys im Auto besser einschlafen. Ich muss schon der Cornet de Roselend hinaufschaufen, um verblüfft festzustellen, dass das eigentlich verboten war. So ein 5-Murmeltier-Pass erweitert doch deutlich den eigenen Horizont. Endlich hat man Zeit zu komplett überflüssigen Erkenntnissen.

Was den Radsport betrifft, bleibt der Cormet allerdings hinter den Erwartungen zurück. Er ist zwar oft im Programm, vermutlich weil er die gewünschten Bilder liefert, die der französische Tourismus gerne sehen will, aber legendäre Entscheidungen sind dort nie gefallen. Vermutlich weil dem Cormet das fehlt, was Routenplaner mögen: Steile Rampen. Drum taucht der Cormet meistens in der Mitte einer Etappe auf, also zu einem Zeitpunkt, an dem keine Vorentscheidung zu erwarten ist. Wenn man Fernsehsportler ist, so wie dein Tagebuchschreiber, weiß man das leider. Eine gewisse Ahnung von Radsport-Streckenplanung zählt unbedingt in die Kategorie Nerd-Wissen. Und ich könnte mich morgen vermutlich geißeln dafür, dass ich das gerade öffentlich im Tagebuch ausbreite. Koryphäen wie der große Autor Hans Blickensdörfer haben es verstanden, ihre Nerderei (die man zu seinen Lebzeiten unter dem Begriff noch gar nicht kannte) eleganter zu verpacken. Über den großen Bli könnte man vieles erzählen, allerdings nicht so exzellent, wie er es selbst beherrschte, zum Beispiel in „Die Baskenmütze“. Die beste Geschichtsschreibung der Tour stammt immer noch vom großen Bli. Und weil „mein“ VfB gerade den DFB-Pokal gewonnen hat, darf folgender Hinweis nicht fehlen: Auch in dieser Geschichte hat der 1997 verstorbene Bli die Finger drin. Schließlich war es der Fußball-Connaisseur Blickensdörfer, der 1974 in Aalen einen bulligen Stürmer entdeckte, den er einer einem gewissen Gerhard Mayer-Vorfelder so entschlossen ans Herz legte, dass er den Mittelstürmer mit den ungelenken Bewegungen nach Stuttgart holt. Kaum fünfzig Jahre später sorgt der väterliche Berater Dieter Hoeneß dafür, dass sein Sohn den VfB trainiert.

Der große Bli, soweit ich das beurteilen darf, hatte nur eine große Schwäche, und das war Frankreich. Kein Makel im eigentlichen Sinne, doch verbunden mit der Folgeschwäche, dass er in seinen Radsportgeschichten meistens die Belgier übersah. Er nannte zwar brav ihren Namen, wenn sie den Franzosen mal wieder den Sieg wegschnappten, aber aus journalistischer Sicht interessierten sie ihn kaum, außer vielleicht Merckx, an dem kam keiner vorbei, nicht mal Bli.

Das Ganze ist, zugegebenermaßen, heute ein ziemlich bunter Eintrag ins Tour-Diario. Viele Themen, ziemlich chaotisch und manch überraschende Kurve. Ein Text, wie eine Fahrt über den Cormet de Roselend.

Erkenntnis des Tages: Wenn man in einer kurzen Regenpause unterm Baum steht, und plötzlich das Gefühl hat, es würde aufhellen, sollte man bevor man den Gedanken des Weiterfahrens formuliert, besser prüfen, ob der Eindruck des hellen Himmels nicht daran liegen könnte könnte, dass man gerade seine dunkle Radbrille abgenommen hat.