Cyclostyling - Texter Sautter
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Cyclostyling

Bergerfahrung, Etappe 12, Pramajur – Bormio, 55 km, 1600 Höhenmeter

Kaiserwetter. Die Ciclisti kriechen wie Murmeltiere aus ihren Löchern. Unähnlich sind die sich nicht. Bei guter Haltung strecken beide Spezies in der Beschleunigung ihren Po frech nach hinten. Beim Murmeltier konnte ich das heute auf der Abfahrt vom Stilfers Joch beobachten, aus nur 20 Metern Entfernung. Husch, husch, über die Fahrbahn in den Bau. Aber nicht, dass jemand meint, wir wären das Stilfser Joch hoch. Wir nahmen den Lieferantenaufzug: Umbrail. Der höchste Schweizer Pass mündet auf 2.500 über Null in die Abfahrt vom Stilfser – neben dem Mythos Stelvio wird der Umbrail oft vernachlässigt. Manche werden ihn von den Verkehrsnachrichten kennen. Die freien Pässe wurden im Radio jahrzehntelang für jedes Land alphabetisch vorgelesen. Die Schweizer Pässe endeten stets mit „Splügen, Susten und Umbrail“ Der Umbrail ist wieder so ein Schätzchen. Schmaler Straße, gute Fahrbahn, feine Serpentinen, keine Rampen, landschaftlich extrem reizvoll. Der Mythos vom Stelvio fehlt zwar, aber wer braucht den Rummel auf der Passhöhe und den Verkehr auf der klassischen Nordrampe?

Wenn es neben Mont Ventoux, Galibier und ganz Belgien noch ein Weltzentrum des Radsports gibt, dann ist es Bormio. Strategisch fein gelegen zwischen Stelvio, Gavia und weiteren enormen Auffahrten. Die Rennrad-Dichte ist enorm. In puncto Fahrradläden auf 1000 Einwohner würde ich wetten, dass Bormio weltweit führend ist. Auffällig: Drüben im Vinschgau bist du mit dem Rennrad klar in einer Minderheitenposition. Hier in Bormio kurbelst du dein Rennrad mit der Masse. Die kleine Hauptstraße ist nicht nur Fußgängerzone, sondern auch Prèt-á-Porter für die Rennradfahrer Ü35. Stylisch und tattoofreudig Gondeln kleine Gruppen lockeren Trittes durch Städtchen. Exclusive Radmarken werden vorgeführt. Mit einem Supermarktfahrrad traut sich keiner. Jeder denkt, die Damen und Herren kommen gerade runter vom Pass. Möglicherweise fahren sie aber nur im Kreis, wie einst VfB-Kultspieler Arthur Bola mit deinem Lamborghini in Fellbach ums Carré. Keiner der Ciclisti mit so einen verlotterten Anderthalbwochenbart wie ich. Also schnell zum Barbiere, und morgen früh gut gedehnt den Hintern rausgestreckt, sonst geh ich unter in diesen Radsportstädtchen.

Im Fachhandel gibt’s manche Bücher zum guten Cyclostyle. Eins heißt „The rules“. Auf fast 150 Regel wird alles gesammelt, was man einfach wissen muss. Socken hochziehen. Niemals mit Ventilkäppchen fahren. Bereit sein für ein noch bunteres Trikot. Niemals ein Pro-Team-Trikot fahren, wenn man langsamer ist als ein Pro. So klar sind die Regeln formuliert, und es ist wirklich extrem wohltuend sich in einem Städtchen zu wissen, in dem die Grundlagen des Radsports wie selbstverständlich beherzigt werden. Der extrovertierte Cyclostyler kann sich zu Recht die Kommunikation sparen. Er sitzt vor der Cafébar in der Sonne, wo er seine Waden locker streckt. So geht das: Man läßt die Beine sprechen – am Berg und im Café. Bella Italia.

Erkenntnis des Tages: Wenn du vier Serpentinen unter Dir eine Jumbo-Visma Killerbee an Trikot, Style und Rhythmus erkennst, gibt’s kein Entrinnen. Dann ist’s schon zu spät, dann wirst du wenige Sekunden später nach allen Regeln der Kunst abgestellt, stehen gelassen, zum Hintereingang raus geworfen, nach Süden geschickt. Die Pace, mit der du überholt wirst, reicht dann grad für „He“. Bei „llo“ ist die Pro vom Team Jumbo-Visma längst außer Sprechweite. Wie gut, dass Teuntje Beekhuis an der Passhöhe eine Telefonpause machte. So konnte ich kurz ein paar Takte mit ihr sprechen. Erkenntnis: Bormio ist für die Touristen und Stylisten. Wenn du Leistung machen willst, wohnst du in Livigno, wegen der Höhe. Jumbo-Visma-Trainingscamp. Viel Glück, Teuntje, für die anstehende Tour de France Femmes. Das heutige Trainingsintervall war aus meiner Sicht ganz ordentlich.

Kapelle auf der Stelvio Abfahrt
In einem verlassenen Haus des italienischen Straßendienstes
Suchbild mit Murmeltier