Seniorenteller - Texter Sautter
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Seniorenteller

Bergerfahrung, Etappe 10, Canazei – Bozen, 74 km, 500 Höhenmeter

Als Nachwuchstalente des Radsports gehen wir nicht mehr durch. Trotzdem hat Michl natürlich recht, wenn er darauf hinweist, dass wir noch kein Senoirenteller bestellen sollten. Das wären zu kleine Portionen. Ich solle gefälligst, so folgert Michl, weniger mit dem Alter kokettieren. Stimmt! An den Tellern der Welt bleibt der Michl, die alte Frühstücksbuffetschneise, ein Meister aller Altersklassen. An der Bergwertung selten Erster. Aber am Teller: immer Erster. Mittagsmahl mit Vorspeise, abends auch zwei Gänge und einen abschließenden Coup Denmark. Ansetzen tut da nichts. Die Zweimeterwindmühle wandelt offenbar alles in Energie um. Dieser Körper ein Faszinosum.

Gestern unterhalb des Fedaia hat aber auch der Michl gestaunt. Im Restaurant am Nebentisch hatten zwei ansonsten unscheinbare Damen einen anständigen Fleischberg geordert. Bestes vom Grill. Verschiedene Teile türmten sich auf der heißen Platte in der Mitte des Tisches. Respekt die Damen. Famose Bestellung. Wir waren mit Nudeln und Zeug zwar vollauf zufrieden, aber der Fleischberg drüben, geliefert vom offenen Feuer, das mitten im Restaurant loderte, der war schon ein Hingucker. Michl auch Riesensalatbowl vorweg und Hauptgang volle Portion. Aber nicht Erster. Die Damen waren schneller. Der Fleischberg schmolz vor ihren Augen wie Schnee in der Sonne. Der Tischgrill war im Nu leer, da hatte ich grad begonnen lustvoll im Pastateller zu kurbeln. Aber die Damen nicht mit der Ausdauer eines Künstlers gerechnet. Souveräner Michl-Konter. Dessertkarte bitte. Coup Denmark – und was für einer. Da konnte der Nebentisch mit mehr mithalten. Die Damen schlichen kleinlaut von dannen. Abgang ohne Dessert. Gegen einen Michl hast du wenig Chancen. Auch heute Mittag hat das Wiener Schnitzel weit über den Tellerrand gelappt. Und beim Gehen, hat der Michl sofort für abends reserviert. Da hat der Ober schon gewusst: Dem Langen kannst du auch abends mit keiner kleinen Portion kommen.

Gut genährt sind wir über den Karerpass in Südtirol eingedrungen. Dieses Alpen-Mallorca boomt nach wie vor. Inzwischen muckt die einheimische Bevölkerung auf. 80 Prozent geben an, dass der Tourismus an den teuren Preisen für Lebensmittel und Immobilien schuld sei. Eben so viele schieben dem Tourismus die hohe Verkehrsbelastung und scheußliche Architektur die Schuhe. Inzwischen wird ernsthaft über einen Bettenstop diskutiert. Verbände protestieren natürlich. Aber die Entwicklung geht genau da hin. Fünfsternehotelier Michil Costa sagt: „Es gibt im Land Heiligtümer, die man nicht ansprechen darf, unter anderem die gespritzten Äpfel, der Südtiroler Schinken von ungarischen Kühen und die Zahl der Hotelbetten.“ Seit die Dolomiten zum Weltkulturerbe ernannt wurden, sei alles nur noch schlimmer. Der Verkehr über die Pässe gehört begrenzt, fordert Costa und viele andere. Heute funktioniert die natürlich Begrenzung: Das Wetter ist ne graue Suppe. Regen ist angesagt. Wir sind schon deshalb zeitig los und wurden belohnt. In Lana kamen wir trocken an. Geregnet hat‘s vorschriftsgemäß erst am Nachmittag.

Erkenntnis des Tages: Grautöne sind zwar auch schön. Aber wenn du an so einem Tag Fotos machst, sieht es aus, als wärst du als Fotograf für Gesellschaftskritik zuständig. Soweit geht’s dann doch nicht. Ich fotografiere also eine Hecke blühender Knöterich im sicheren Wissen, dass er als Vorbild für Raumduftsprays in den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts sehr beliebt war.