07 Feb Kapitulation
Die Trainerdiskussion beginnt in der 47. Spielminute. Hrustic macht nach einer Ecke das 1:2 für Frankfurt. Er darf das machen. Er steht frei. Praktisch frei Strafraumkante. Frei wie einst nur VfB-Präsi Vogt auf der leeren Cannstatter Kurve. Hrustic Treffer fällt wie gemalt. Als die Stuttgarter 5-Meter-Raum-Blase endlich merkt, was los ist, zappelt das Ding im Netz.
Die Debatte um die sportliche Leitung beim VfB ist berechtigt. Bei dieser Ecke dösen nicht nur Abwehr, Mittelfeld und Sturm, als wären sie noch regungslos auf Erholungsurlaub in Marbella. Auch die gesamte Ersatzbank schaut in die Sonne. Mal ehrlich, das sieht der Trainer bei jedem C-Jugendspiel von Grün-Weiß Sommerrain, dass der Hrustic blank steht! Vermutlich sind Materazzo, Mislintat und die anderen noch mit Datenanalyse beschäftigt, statt ihr Team bei der real existierenden Standardsituation anzuleiten. Mal richtig fokussieren, die Herren Sportskameraden auf der Bank. Was man in einer Woche Marbella versäumt, muss man halt ad hoc nachcoachen. Wenn man auf Ballhöhe ist. Wir verstehen uns schon: Fehlersuche beginnt immer an der eigenen Nase, gell.
Gut, dass wenigstens in den Fan-Foren die gute alte Schule des Ad-hoc-Coachings noch funktioniert. Der Trainer, der Sportdirektor, das Konzept und so weiter. Ich las schon vom Schleifer, der jetzt nötig wäre. Der alle „auf Vordermann bringt“. Gras fressen. Mentalität. Identifikation. Dauerbelastung. Verletzungspech. Überraschend wenig vom Schiedsrichter war zu lesen. das bedeutet: Richtig Bambule. Kehrwoche vor der eigenen Haustür. Gut so. Im Ranking der konstruktiven Vorschläge lag unter allerlei kreativen Vorschlägen aber der Klassiker an Nummer 1: der Trainer. In der Dauerhitparade des Provinzsenders kommst du an „Stairway to Heaven“ auch nicht vorbei. Der Trainer also. „Erreicht die Mannschaft nicht mehr“ und „die branchenüblichen Mechanismen müssen greifen“. Man könnte seinen Bingo-Zettel Stahlhirn sport1 Doppelpass schneller abhaken als in zwei Stunden am Sonntagmittag.
Harmonie ist eine Strategie
Mal ehrlich: Persönlich ist mir das zu preisgünstig. Mal abgesehen davon, dass wir in der neuen sportlichen Struktur nicht über den Trainer sondern das Trainerteam reden, und womöglich auch von der gesamten sportlichen Führung. Man hört zwar meistens nur den Mislintat reden, weil der das kann. Doch wenn seine Sonntagsreden nur halbwegs zutreffen, handelt es sich beim VfB um ein echtes Team. Also inklusive Staff, Konditionstrainer und weitere Weltstandsdatenerfassungshütchenaufsteller. Dementsprechend wär’s ein Trainerwechsel XXL.
Neee, das ist mir aus vielen Gründen zu preisgünstig. Ich finde: Sollen sie die Suppe gefälligst auslöffeln, die sie uns zusammengekauft haben. Dann wird sich zeigen, ob das angebliche Daten-Diamantenauge mit der Nebenbegabung eines universellen Pressesprechers mehr drauf halt als die alte Wirecard-Methode, also Tricksen und Vortäuschen.
Nein, es sieht nicht gut aus. Platz 17 geht mal gar nicht. Aber hey: Wer den Abstieg als Untergang bezeichnet, darf sich selbst auf die Schulter klopfen, wegen zwei überlebter Untergänge in den letzten fünf Jahren. Bevor wir also unter einem Erben Weinzierls wieder mit Vorstopper und Libero spielen, oder schauen, ob die Fitness von Giovanni Trappattoni ausreicht, um ihn über die Alpen zu fahren, blättere ich entschlossen drei Jahrzehnte weiter zurück im Historienband mit dem Brustring. Der VfB hat weitreichende Erfahrungen mit innovativen Ansätzen. Weit gekommen ist keiner. Jogi Löw wurde trotz eines Europacup-Finales erfolgreich demontiert. Ralf Rangnick hat es keine Saison ausgehalten, weil jeder Rückhalt fehlte. Aktuell steht der VfB nach einem Jahrzehnt konfuser Trainerentlassungen dort, wo ein Traditionsclub dieser Tage eben steht. Tatsächlich ist was dran, dass es die klassischen Vereine schwerer haben in dieser Zeit. Mehr Druck. Gleichzeitig weniger Einnahmen. Leverkusen und Hoffenheim sind weniger abhängig von gefüllten Logen, vollen Stadien und den Stimmungen. Oder man zieht den Direktvergleich mit Wolfsburg. In den deutschen Industriegebieten bleibt die Tabellenpanik durchaus überschaubar. Bei vergleichbarer Lage.
Pure Vernunft darf niemals siegen.
Damit zum wichtigsten Argument für eine VfB-Kontinuität, die durchaus atypisch wäre: Wenn Du in dieser Liga nach oben kommen willst, musst Du etwas anders machen als die Anderen. Mit fortlaufenden Trainer- und Konzeptwechseln haben wir es schon probiert. Eher so semi erfolgreich. Jetzt ist die Mislintat-Bande dran. Vielleicht Schaumschläger, könnte sein. Vielleicht in riesiger Bluff. Man darf schon skeptisch sein, wenn ein junger Reservist in einem Lissabonner Vorort nur in Stuttgart auffällt und sonst nirgends. Aber hat nicht Rangnick, als er noch Jugendkoordinator war, den Ronaldo entdeckt? Der hatte damals auf dem Training zwanzig Stück in die Dreiangel gedroschen. 10 rechts, 10 links. Ohne Fehlschuss dazwischen. Jaja, ich weiß, unter Mayer-Vorfelder wäre das nicht passiert. Schon klar. Andererseits gibt’s zum Risiko keine Alternative.
Und jetzt? Kapitulation kommt nicht in die Tüte. Tatsächlich wäre es eine Kapitulation, wenn man nur eine Person aus dem Team entlassen würde. Diesen Gefallen sollte man niemandem tun. Sie sollen ihren viel besungenen VfB-Weg mal hübsch zu Ende gehen. Fußball ist eine Risikosportart. Gerade als Fan. Für die jungen Wilden der 76er-Generation beginnt das VfB-Wunder in der 31. Spielminute. Auswärts in Schwenningen. Bei einem 0:3-Rückstand wechselt Sundermann Beck und Wörn ein. In der Halbzeitpause scheppert ein kitschiges Lied von Katja Ebstein durch die ramponierten Lautsprecher.