29 Sep Slechte Staat
Ronde, Etappe 6, Namur – Geraardsbergen, 107 Kilometer, 1070 Höhenmeter
„Wegdek in slechte Staat“, warnt ein Schild, was mich aufrichtig freut. Ich muss wohl gerade über die Sprachgrenze nach Flandern vorgedrungen sein. Nein, Flandern ist kein schlechter Staat. Das Sträßchen war sogar eins der besseren. Vor den fiesen Schlaglöchern oder den Rüttelradwegen warnt kein Schild. Heute also quer durch Brabant. Das schwarze Belgien, das Revier rund um Charleroi, ließ ich links liegen. Wie naiv von mir: Dachte ich doch, heute würde ich es easy wegrollen lassen. Weil das Höhenprofil nur sanfte Hügel zeigte. Von wegen. Unterschätze niemals die langen Wellen des Brabant. Das geht fließend von flach nach aufwärts, dass du es kaum merkst. Nur eines merkst du: Es läuft nicht. Bad Leg Day zusätzlich. Gegenwind auch. Fassen wir zusammen: Sautter in slechte Staat. Rein radfahrerisch.
Ging schon damit los, dass ich in Namur nicht losgekommen bin. Namur ja wie Monaco und Kitzbühel. Was im Alpinsport die Streif, in der Formel 1 die Straßen von Monte Carlo, ist im Radcross die Zitadelle von Namur. Völlig wurscht, ob du Weltmeister bis oder die Superprestige-Serie gewonnen hast: In Namur musst du gut aussehen. Gar nicht so einfach, den Kurs zu finden, wenn er nicht markiert ist. Aber ich hab’s dann begriffen. Die Wiese, die du garantiert niemals runterfahren würdest, und gleich gar nicht ohne Stoßdämpfer, das ist die CX Cross Strecke. Da kommst du nicht drauf, wenn du es nicht weißt. Das gilt ja auch für die gesamte Sportart. Bitte, die Disziplin besteht daraus, ein Gerät durch den Schlamm zu tragen, das sich nicht in erster Linie zum Tragen eignet. Und obendrein bekommst du noch tausend Gelegenheiten vom Rad runterzufallen. Wer braucht denn sowas? Natürlich das belgische Publikum. Absoluter Volkssport hier. Mit einem größtenteils humorlosen Abräumer: Eli Iserbyt. Der verbissene Kampf-Wusler gewinnt fast alles. Außer: Der große Wout van Aert steht am Start. Aber Wout fährt eben die CX Saison nur sporadisch. Van Aert trainiert auf die großen Straßenklassiker und schaut nebenher, dass er einen jungen Dänen zum Toursieg zieht. Bei mir ist es so: Je slechter mein Staat, umso faszinierender finde ich das, was Spitzenkönnerinnen und -Könner leisten. Grad in einer Sportart, die belgischer nicht sein könnte.
Und dann bist du 40 Kilometer weg von Namur, schaust zurück, und was siehst du: immer noch dieses brüchige AKW von Tihange, das ich versucht habe, beharrlich zu ignorieren. In diesem Punkt: Belgien wirklich ein schlechter Staat. Das Ding ist ein einziges Störfall-Festival. Das gehört längst vom Netz. Punktum. Auch das Argument „Belgien“ zieht nicht. Eigenheime kannst du so bauen. Aber nicht Atomkraftwerke. Bevor mir‘s den Urlaub vergällt, schau ich wieder nach vorn, weil: irgendwas rollt hier nicht. Und Moment, das da vorne… ist… jetzt schon?? Kopfsteinpflaster! Und was für slechtes. Aber auch daran gewöhnt man sich, wenigstens ein bißchen, und irgendwann hab ich begriffen, warum die Belgier so gerne Kopfsteinpflaster rauffahren. Weil runterfahren noch schlimmer ist.
Damit zum Höhepunkt des Tages: Die Muur von Geraardsbergen. Die ist klasse. Für andere Radsportklassiker brauchst du Tage. Stilfser, Ventoux oder Tourmalet. Die Muur strampelst du kurz mal vor Feierabend hoch. Auch anders als Huy. Da geht’s echt ums Amkommen. In Geraardsbergen kein großes Problem. Das Ding ist halt so legendär, weil es so schmal ist, und wenn du nicht vorne dabei bist, wirst du abgehängt. Aber ich: Ich bin eh jenseits von gut und böse, gurke im Minus-Tempo bei bester Laune der Muur-Kapelle entgegen. Heiliger Ort.
Erkenntnis des Tages: An dem Erkenntnisgewinn konnte ich nicht vorbei fahren. Links am Auftakt zur Muur werden die ahnungslosen Radtouristen von einem Schild belehrt. Design: gelbe Typo auf Kopfsteinpflaster. Text: „Echte Flandriens rijden op Kasseien“