23 Mai Wie auf Schienen
Bald geht das wieder los. Einige Zeit sah es so aus, als wäre sogar mein Trainingszustand einigermaßen passabel. Irgendwie eine Coronafolgeerscheinung, nur dass man nicht mehr so allein ist auf den Radwegen des Landes. Plötzlich fahren alle. Sogar Kumpel Dietrich, der bis dato noch keine Spur von Rennradliebe erkennen ließ, schaffte sich einen hipstermäßigen Retrorenner an. Feines Teil, so eine Gitane. Auf der Marke fuhren schon Anquetil, Van Impe, Hinault und Fignon. Und jetzt eben Dietrich, mit mir durch Stuttgart-Ost. Da muss man übrigens arg auf die Straßenbahnschienen aufpassen, am Ostendplatz. „Sind die schlimmsten Unfälle“, warnte ich altklug meinen Kumpel, bevor ich auf das fein asphaltierte Band zwischen den Schienen sprang. Die Straße ist für automobilen Verkehr gesperrt. So rollte ich zwischenschienig weiter hinab Richtung Gaisburg.
Wetter sonnig, Gedanken schweifen. Radfahren ist ja auch deshalb so wundervoll, weil das Rad zur Erweiterung des eigenen Körpers wird. Man bildet mit dem rollenden Gerät eine Einheit. Man beschleunigt aus den Hüften. Lenkt mit dem Instinkt. Man spürt durch die Reifen. Körper und Maschine als Einheit. Als wäre man darauf geboren. Man atmet die Geschwindigkeit und riecht jede Note. Wenn ein Sonntagsbraten bereitet wird, nimmt man es wahr. Ein Kiefernwald ist ein Festival. Allgäuer Latschenkiefer Hilfsausdruck. Die Natur erfüllt das eigene Sein. Der Fahrtwind streicht über die Haut. Wenn man im Tritt ist, erscheint die rollende Fortbewegung als völlig mühelose Erweiterung des Seins. Hände, Füße, Räder – klarer Fall von sechs Gliedmaßen. Man strampelt zwar ein wenig, aber im Wesentlichen schwebt man. Völlig natürlich und angenehm geräuschlos. Was man allerdings auch zugeben darf: Wenn es die rollende Mensch-Maschine plötzlich gewaltsam auseinander reißt, ist es auch extra schmerzhaft.
Mein Flug war leider zu kurz, um an dieser Stelle die Eindrücke zu schildern. Von der Landung kann ich sagen, dass sie durchaus ausbaufähig war. Mein Abrollen war wohl so einigermaßen der Situation angepasst, was aber nichts daran änderte, dass das rechte Handgelenk einen großen Teil des Aufpralls im Alleingang übernehmen musste. Glücklicherweise hatte Dietrich eine Wunddesinfektion an Bord. Dass ich als altkluger Schienenwarner selbst in einer Schiene hängen geblieben war, auf dieser Tatsache will ich an dieser Stelle nicht unbedingt weiter herumtrampeln. Die Pointe war vorsehbar. Nur für mich nicht, als ich auf dem Rad daherphilosophierte und dabei diese hinterlistig angelegte Weiche übersah. Dass sich die Stuttgarter Straßenbahnen an dieser Stelle die Verzweigung hätten sparen können… den Gedanken schenkt ich mir und pack mich besser genau an der Nase, auf der ich soeben gelandet war.
Erkenntnis des Tages: Vergiss nie die Regel Nr. 1, die besagt, dass man gefälligst hinschauen soll, wo man hinfährt. Beherzige auch die Regel Nr. 2. Darin steht geschrieben, dass man ein historisches Rennrad am besten dann fahren möge, wenn man die Schrauberei daran beherrscht. Unsere kleine Ausfahrt mussten wir später mit Hinterradschaden an der Gitane beenden, irgendwo auf halber Strecke in Nellingen. Andererseits: Das Hinterrad war vermutlich schneller wieder in Ordnung als mein Bremsgelenk. Kurze Zeit später wurde es in eine Schiene gebettet. Kein Grund zur Sorge, diese Zeilen tippe ich längst wieder mit den Fingern beider Flügel.