24 Sep Strahlemann
Dienstreise, Etappe 1, Stuttgart – Wissembourg, 146 km, ca. 1.900 Höhenmeter
Jetzt geht das wieder los. Warum eigentlich, frag ich mich am hellen Morgen, als ich von meinen Körper daran erinnert werde, dass er Frühsport hasst, weil er übrigens das Aufstehen schon für eine Sportart hält. Nach kurzer Diskussion schlepp ich den widerspenstigen Körper unter stummen Protest unter die Dusche, nur um zu probieren, ob heute überhaupt was geht. Ist ja nicht nur das Radfahren selbst, das angegangen werden will. Wenn du aufbrechen willst, musst du auch noch packen. Das mag mein Hirn so sehr wie der Körper das Aufstehen. Und jedesmal vergess ich was.Aber jetzt Schluss mit der Weinerlichkeit. Ein Plan ist ein Plan. Und eine Banane ist eine Banane. Radlernahrung. Rein damit und rauf auf den Sattel. Der große Geraint Thomas hat in seinem letzten Buch diesen Widerspruch formuliert: Radfahren sei ja per se kein Vergnügen, notierte Thomas, aber hinterher sei‘s so viel bereichernder gefahren zu sein als nicht gefahren zu sein. Also gut, Geraint, wenn du meinst.
Bereits in Möhringen hat er recht. Ich lächle und grüße diverse Fußgänger, wildfremde Leute. Radfahrer grüßen mich zurück, einfach so. Als mir ein Fußgänger den Schwung nimmt, weil er brav vor meiner Nase über den Zebrastreifen läuft, entschuldigt er sich. Keine Ursache, sage ich im Stillstand und lächle. Der Bus bleibt brav hinter mir. Der kleine Mini lässt mich einfädeln, obwohl er Vorfahrt hatte. Die Welt ist schön. Einer von mir gefühlte Wahrheit zur Folge ist das Lächeln auf dem Fahrrad deutlich breiter als hinterm Steuer. Der Abstand der Mundwinkel bei Radlerinnen und Radler ist in der Regel größer. Handgemessen zugegebenerweise. Manchmal verwechselt man zwar Lächeln mit angestrengten Schnaufen, so wie man den lächelnden Smilie und den zähnefletschenden Smilie kaum auseinander halten kann. Aber trotzdem: Das Rad wirkt bei mir wie eine Gutelaunemaschine. Und bei Anderen wirkt das auch. Auf dem Rad werden sogar meine Texte versöhnlich und meine Gedanken kitschig. Frühsport? Ach, ich strample gleichmäßig vor mich hin. Sport ist das nicht, sagt sogar mein Körper.
Quer durch Rutesheim erinnere ich mich daran, dass die Stadt mal den dritten Platz im Ranking der fahrradfreundlichsten Kleinstädte gewonnen hat. Tatsächlich überall gute Radwege. Einer ist gesperrt, dafür ist die Umleitung vorbildlich ausgeschildert. Radlerparadies. Ich strahle jedes Umleitungsschild an. Morgens kurz nach Neun. Du kannst mich für plemplem halten. Aber ich finde, wenn ne Stadt schon fahrradfreundlich ist, dürfen die Radler ja auch freundlich sein. Ist eh bald wieder vorbei mit der guten Laune. Pforzheim liegt auf meiner Route.
Pforzheim. Also Gedenkminute für Natenom, den Blogger und Fahrradaktivisten. Bürgerlicher Name: Andreas Mandalka. Lebte in Pforzheim-Hohenwart. Gestorben an dem, wogegen er zeit Lebens kämpfte. Nachts auf der Landstraße umgemäht von einem Autofahrer. An seiner laschen Beleuchtung lags nicht. Mandalka fuhr perfekt illuminiert. Nicht ganz Flutlicht, weil er niemand blenden wollte, aber ähnlich. Praktisch andere Version eines Strahlemanns. Jedenfalls so leuchtend, dass man seine Schwimmnudel sah, die er hinten auf dem Gepäckträger montiert hatte. Damit die Autos Abstand halten. Einmeterfuffzich. Die Pforzheim Polizei kannte Mandalka gut. Wer sich im Auto nicht benehmen konnte, wurde angezeigt. Das konnte sich durchaus häufen, mit den Anzeigen. Klar: absoluter Nerd, der Natenom. Aber die braucht‘s eben auch, diejenigen, die sich wehren. Und wenn‘s sein muss, ohne zu lächeln. Letzte Bemerkung der Gedenkminute: Auf Natenoms Blog gibt es einen Tag vor seinem Unfalltod einen Eintrag, bei dem schildert, wie er einem älteren Sportwagenfahrer hilft, seine Karre wieder flott zu machen. Mandalka notiert: „Kein gutes Gefühl, so jemanden weiterfahren zu lassen. Der Herr war mit seinem eigenen Auto überfordert und das hat man auch deutlich gemerkt.“ Die Ermittlungen der Polizei im Zusammenhang mit seinem Unfalltod richten sich gegen einen 77 Jahre alten Fahrer eines Kastenwagens. Verdacht auf fahrlässige Tötung.
Zurück zum Strahlemann des Tages. Lauter freundliche Verkehrsteilnehmer heute. Weit und breit niemand, der ne Anzeige verdient hätte. Im Gegenteil, gestreichelt gehören sie alle. Selbst in Neuenbürg alles super, vor dem Kaff wird in manchen Foren gewarnt. Klar, denkst du: Enzschleife und Schloß, wie schön ist das denn? Sagen wir so: 90 Prozent von Neuenbürg ist mit dem Renovieren noch nicht fertig. Da muss man tolerant sein mit der städtebaulichen Beurteilung, wird schon noch. Wenn der Himmel die Schleusen öffnet, brauchst du sowieso nur eines: schnell eine gute Wirtschaft. Die Kässpätzle im Adler, meine Damen und Herren, erste Sahne. Derart gestärkt erreiche ich Rastatt, wo man 175 Jahre Badische Revolution feiert. Jaja, damals als man für die Demokratie kämpfte. , und nicht dagegen… Ne, ich werd jetzt nicht politisch, denn das ist ja das Schöne am Tourenradeln. Kein Autoradio vermasselt dir die Laune. Keine Nachrichten, keine Talkshow nervt. Niemand liest dir Wahlergebnisse und mögliche Koalitionen vor. Mit der Wirklichkeit könnt ihr mir ein andermal kommen, vielleicht morgen.
Erkenntnis des Tages: Ich sollte damit aufhören, beim Radeln Tagebuch zu schreiben. Lange her zwar, aber ich erinnere mich genau, wie ich in jungen Jahren mal eine Freundin auf einem Fest gefragt hatte, wie denn ihr Wochenende in Paris war, nur um den smalltalk zu eröffnen. Eine Dreiviertelstunde später stieg sie, wie sie minutiös berichtete, in den Bus der Linie 68 Richtung Châtillon Montrouge, erwähnte ein paar Haltestellen und würdigte die Frisur der Busfahrerin. Sie war erzählerisch noch immer beim Freitagabend, zwei Stunden nach ihrer Ankunft. Da ich gedanklich hochrechnete, dass ihre Pariser Erlebnisberichte bis 9 Uhr morgens dauern würden, mindestens und ohne Knutschen, machte ich mich unter fadenscheinigem Vorwänden vom Acker. Damals hätte ich mir weniger Detailfreude gewünscht. Heute schreib ich in meinem eigenen Reisetagebuch von Furz und Feuerstein. Das muss das Alter sein, bitte um Verzeihung.