29 Sep Gestaltungswille
Dienstreise, Etappe 5, Charleroi – Brüssel, 85 km, ca. 700 Höhenmeter.
Erstmal zwei Präzisierungen aufgrund heutiger Erfahrungen. Zuerst zu Charleroi. Die Stadt selbst auf ihren paar Quadratmetern find ich passabel. Man sieht den Aufbruch, schließlich fällt die Kohle als Ernährungsquelle weg. Der Titel Belgischer Kohlenpott ist ja nicht ganz verkehrt. Strukturwandel immer schwierig. Aber wie es außenrum aussieht…. ohne Worte. Puh! In meiner Hitliste für das AntiInsta- und AntiOvertourism-Zentrum Europas liegt der Wallonische Pott weit vorn. Ich radle entlang von Kanälen, durch Vororte und über Industriebrachen auf der Suche nach einem Fluchtweg nach Brüssel. Mannomann. Was Kohle und Stahl flächendeckend anrichten, da wunderst du dich nicht, wenn uns der Planet bald von der Erde spuckt. Die Sambre und der Kanal Brüssel Charleroi sind für Aida Flusskreuzfahrten final verloren. Ich erspar Euch die unappetitlichen Details der wilden Müllentsorgung. Mal abgesehen davon, dass sich das wegräumen liesse. Kaum wegräumen kannst du die sinnlose Natur-Versiegelung mit Asphalt, Beton und Schwerindustrie, die keiner mehr braucht. Einzig das AKW war einigermaßen im Zustand. Die Region ist so verbaut und final vermurkst, dass sie nur als Drehort für einen Weltuntergangsfilm taugt. Und dann regen sich andernorts die Leute auf, dass Windräder die Landschaft verschandeln würden. Selbst wenn: Wie spurenlos könnte man die wieder abbauen. Aber allgemeines Lamento ist nicht angebracht. Ich sollte mich aufs Lenken konzentrieren. Der Betonplattenradweg hat einen entsprechend entwürdigten Zustand. Neben Kanten und Schlaglöcher umkurve ich auf der Rüttelpiste tote Ratten. Ja, im Plural. Ich beschließe, dass sie keine persönliche Botschaft an mich darstellen. Ist glaub ganz normal hier.
Dann aber auch: Je näher man Brabant kommt, um so angenehmer wird‘s. Die Laune steigt. Was mich zur zweiten Präzisierung bringt. Betrifft: Ugly Belgian Houses. Damit sind keineswegs einfach ruinierte Gebäude gemeint, sozialer Wohnungsbau oder das, was der Zahn der Zeit in Verbindung mit prekären Lagen in Brüche gekaut hat. Nein, es sind durchweg Häuser gut gesitteter Leute, die Hannes Coudeyns in seiner Ugly-Sammlung aufnimmt. Die Deutsche Architekturhistorikern Turit Fröbe hat das Phänomen untersucht. In ihrem lesenswerten Buch „Die Bausünden der Anderen“ stellt sie einen fatalen Zusammenhang für Deutschland fest.m, den man auch in Belgien besichtigen kann. Kurz: Je reicher die Leute, desto zahlreicher die Scheußlichkeiten. Es ist nicht so, dass die eigenwilligen Gestaltungsideen auf Geldnot wachsen. Im Gegenteil. Je mehr Geld vorhanden ist, um so stärker die Hybris der Bauherrschaft und um so weniger kann eine Architektin oder ein Architekt intervenieren, wenn der Geschmack der Auftraggeber Galopp geht. In Belgien ist das noch verschärft. Hier brauchst du keinen Architekten. Viele zukünftige Eigentümer zeichnen selbst und dann rücken die Handwerker an. Ein befreundeter Architekt argumentierte, dass er die Ugly-Beschreibung deshalb arrogant fand, weil man immerhin zugeben müsste, dass ein Gestaltungswille da sein, und das sei doch besser als einfach nach Schema 0815 bauen. Unrecht hat er nicht. Vielleicht ist das Attribut „Ugly“ auch zu hart. Trotzdem führt Hannes Coudeyns mit seiner Sammlung eindrucksvoll vor, bei welchen Design-Ideen es vielleicht besser gewesen wäre, wenn sie niemand gehabt hätte. Ich hätt’ jedenfalls heute ein paarmal halten können, um die Häuser zu dokumentieren. Hab ich nicht. Coudeyns ist der Experte. Stellvertretend für viele Häuser seht ihr einen belgischen Briefkasten mit hervorstechenden Gestaltungswillen. Das Modell muss vor rund 15 Jahren im Baumarkt günstig gewesen sein. Ich sah es gestern und heute genau vier Mal.
Kurz vor Brüssel, dem Ziel dieser kurzen Dienstreise kommt zum ersten Mal in fünf Etappen die Sonne raus – und das nicht nur zwischen zwei Regenwolken. Ich biege nach gradewegs nach Norden, und stelle fest, dass ich bereits so weit nördlich bin, dass der Wind immer von vorn kommt. Ein kleiner Umweg führt mich nach Overijse, wo ich die Cyclocross-Strecke und den letzten Kilometer des Halbklassiker Brabantse Pijl besichtige. Schöne Gegend dieses Brabant. Wird gern mal übersehen, weil unspektakulär. Doch die kleinen Flecken und gepflegten Anwesen versöhnen. Manche Querverbindungen haben traditionelles Kopfsteinpflaster. Das musst du wollen, vor allem wenn‘s den Hügel hochgeht. Als Radfahrer versöhnt dich das zusätzlich. Original belgisches Feeling, sagen die Waden. Randnotiz: Bald sind Kommunalwahlen im Land. Wahlwerbung an öffentlichen Orten ist offenbar nicht gestattet. Anders ist es nicht zu erklären, dass in vor vielen Belgien Houses Kandidatenplakate in epischer Breite ausgestellt sind. Meistens gleich die gesamte Liste der jeweiligen Partei, für die der Eigentümer oder die Eigentümerin kandidiert. Hat was. Siehst du gleich, wie die Leute wohnen, die du wählen sollst oder auch auch nicht. Andererseits: Bei uns muss man die rechten Vandalen bedenken, die mit Traktoren und Schlimmerem anrücken würden. Bevor ich fertig bin mit Für und Wider dieser Vorgarten-Demokratie, stelle ich in Brüssel fest, dass die Methode der Wahlwerbung in Großstädten an logische Grenzen stösst.
Erkenntnis der Tour: Vielleicht sollte ich fortan nur über das philosophieren, worin im mich auskenne. Das werde ich tun. Im nächsten Zeitspiel Magazin wirst du eine längere Story über Royal Union Saint Gilloise finden. Erscheint im Dezember. Am Sonntag bin ich beim Heimspiel im historischen St. Marien Stadion. Für Interviews und Fotos. Daher die „Dienstreise“. Nach den Erlebnissen der letzten beiden Abend bei Sporting Charleroi und FCV Dender bin ich sehr gespannt, wie sich die Szene von Union präsentiert.
Ich sage „Dank je wel“ für‘s Mitstrampeln in dieser kurzen Woche und hoffe mal, dass es im nächsten Jahr weiter geht mit diesen und anderen vorbeifahrenden Hirnfürzen.